Dünger für die Mauerblümchen

Text: Mathias Maul

Eine Technische Redaktion möchte im Unternehmen sichtbar sein. Aber wie andere Abteilungen auch sitzt sie in der Falle, besser gesagt in ihrer Schublade. Und das Schubladendenken zu überwinden, ist nicht gerade leicht – bislang zumindest.

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 08:05 Minuten

In Douglas Adams’ „Macht’s gut, und danke für den Fisch“ baut Wonko der Verständige ein Irrenhaus für die ganze Welt, indem er sein Haus auf links krempelt. Die Welt, so sagt er, sei in dem Moment endgültig verrückt geworden, als Zahnstocher mit Bedienungsanleitung ausgeliefert wurden.

Technische Redakteure, so höre ich immer wieder, haben es aber auch echt nicht leicht. Hocken tagein tagaus als Schreib-Maschinen in Kellerbüros und treffen sich nach Feierabend zum Weiterarbeiten. „Mauerblümchen sind wir? Ach was, Moose und Flechten! Müssen alles wissen und haben nichts zu sagen! Wie gut, dass wir eh kein Rückgrat haben, sonst würden wir denen da oben mal zeigen, was wir wirklich drauf haben!“.

Natürlich ist das überspitzt. Marketing, vor allem Eigenmarketing, funktioniert aber ohne Spitzen und Polarisieren nicht. Denn ein weiteres Problem, so höre ich von denselben Leuten, sei nämlich, dass viele Technische Redakteure und Redakteurinnen aufgrund ihrer charakterlichen Grundzüge eher wenig Leidenschaft für die Selbstvermarktung zeigen. So drehen sich die Mauerblümchen im Kreis, und das Problem bleibt ungelöst.

Rational betrachtet ist es klar: Wenn die Technische Redaktion an Sichtbarkeit gewinnt, gewinnt auch das Unternehmen. Dumm nur, dass die Leuchtturmfirmen, in denen es wirklich gut läuft, wie Ausnahmen scheinen, Insellösungen oder halt Zufälle.

Dieser Beitrag zeigt erste Schritte zu einem System, mit dem diese vermeintlichen Zufälle wahrscheinlicher werden. Und damit dies dort ankommt, wo es am meisten bewirken kann, unterstützen mich bei der Argumentation drei Blickwinkelverstärker: Frank Haibach, Leiter der tekom-Regionalgruppe Mitte, sowie die Psychologen Fabrizio Ferri-Benedetti (Leiter Technische Kommunikation beim Spielehersteller King) und Andreas Benkowitz (Geschäftsführer und Change-Berater bei alstracon).

Denn heimlich, liebe Leser, ahnen Ihre Chefs, welche Werte ungenutzt in den Kellerbüros hocken, aber mangels Systematik noch nicht an die Oberfläche gelangt sind: Bitte leiten Sie den Beitrag oder vielleicht sogar die ganze Zeitschrift eine oder zwei Ebenen nach oben weiter. Denn, um direkt Herrn Haibach zu Wort kommen zu lassen: „Mehr Wertschätzung führt zu mehr Wertschöpfung. Wer nur gerufen wird, um aufzuräumen, nachzukarren oder gesundzuschreiben, arbeitet ohne Befriedigung und kostet das Unternehmen einiges an Geld.“

Unsichtbar bedeutet unwichtig

Zunächst eine kurze terminologische Klärung: „Sichtbarkeit im Unternehmen“ bedeutet für den regelmäßig mit Auszeichnungen dekorierten Vertriebler etwas anderes als für den Technischen Redakteur, der vielleicht ein besonders gelungenes Kapitel 21 geschrieben hat. Die Sichtbarkeit an sich ist jedoch wenig relevant; sie ist Mittel zum Zweck: „Unsichtbarkeit wird in Unternehmen gerne mit Unwichtigkeit assoziiert. Und das verträgt sich nicht mit Wertschätzung und Motivation, Inspiration und Weiterentwicklung – sowohl für den Mitarbeiter als auch für das Unternehmen,“ so Frank Haibach. „Wer nicht sichtbar ist, wird weder gefragt noch gehört. Dadurch entgeht den Unternehmen ein immenses wirtschaftliches Potenzial.“

Das Potenzial eines sichtbaren, das heißt als wichtig erachteten Vertriebs, lässt sich an einfachen Messgrößen festmachen. Die Messgrößen des Erfolgs der Technischen Redaktion jedoch sind meist nur den dortigen Mitarbeitern offenkundig; Kollegen anderer Bereiche bekommen glasige Augen, wenn Redakteure vom tief vernetzten, aber unsichtbaren Einfluss ihrer Teams berichten.

Gleichzeitig sind die menschlichen Dimensionen zu beachten: Wenn Technische Redakteure nur als Rädchen in als Kostenstellen geführten Dienstleistungsabteilungen gesehen werden, dann machen sie Dienst nach Vorschrift, der sich weder mit dem unternehmerischen Willen zur Innovation noch der Motivationsstruktur der Mitarbeiter selbst in Einklang bringen lässt. Die üblichen apokalyptischen Reiter lassen grüßen: innere Kündigung, Burn-out, Wissensfluktuation, Innovationsstau und so weiter.

Die Hypothese lautet also: Mehr Sichtbarkeit führt zu mehr Wichtigkeit im Unternehmen führt zu mehr Potenzial, einen Beitrag zum Ganzen leisten zu können, führt zu mehr Gutem für Alle. Wäre es so einfach, würde es überall gut laufen. Also schaue ich im Folgenden auf eine der Ursachen, warum die Nuss so hart ist.

Schubladen aufziehen

Lisa Feldman Barretts Buch „How Emotions are Made“ sorgte für einigen Aufruhr in der Change-Management-Szene: „Bahnbrechend in ihrer Forschung ist, dass Kategorien hirnphysiologisch verankert sind. Es sind nicht einfach nur mentale Konstrukte“, so Andreas Benkowitz, ehemals Personalchef bei Microsoft Deutschland, im Interview. „Kategorien werden umgangssprachlich als Schubladen bezeichnet und so als leicht zu veränderndes Konstrukt abgetan. Man müsse doch einfach mal mit dem Schubladendenken aufhören, sagt man. Tatsächlich sind sie tief im kollektiven Unterbewusstsein von Organisationen oder ganzen Branchen verankert und in jedem Individuum hirnphysiologisch mess- und damit belegbar.“

Kleines Experiment: Stellen Sie sich einen typischen Vertriebler vor. Jetzt eine typische Mitarbeiterin des Marketingteams. Und jetzt die Technischen Redakteure. Nun? Was sehen Sie? – Alleine, dass Sie sich einen „typischen“ Vertriebler, Marketer, Redakteur überhaupt vor das innere Auge rufen konnten, spricht für eine etablierte Kategorisierung derselben. „Kategorie bedeutet: Die Redaktion macht das, was die Redaktion halt so macht“, so Andreas Benkowitz weiter. „Wenn ein Mitarbeiter in den Meetingraum kommt und sich vorstellt, dann weiß jeder sofort und unbewusst, was er den ganzen Tag so treibt.“ Oder, und da ist das Problem, jeder glaubt es zu wissen. Die Kategorie „Technischer Redakteur“ ist in vielen Betrieben ein „interner Dienstleister, der Anleitungen schreibt“, auch wenn das nur ein Bruchteil von dem ist, was Redakteure tatsächlich zum Ganzen beitragen, und ein noch kleinerer von dem, was sie beitragen können. Nur wenige Unternehmen belegen diese Kategorie mit Attributen, die ihre integrale Funktion würdigen.

Diese „Klebrigkeit“ der mentalen Kategorien gehört zu den Gründen, aus denen aktionistische Veränderungsinitiativen nicht fruchten: Man kann eine Kategorie zwar für die kurze Zeit zum Wackeln bringen, während man beim Outdoor-Event mit den Kollegen im Hochseilgarten hängt. Danach ist schnell alles wieder beim Alten, denn „das Gehirn macht dauernd Vorhersagen über das, was als Nächstes passiert. Sobald die Vorhersage nicht massiv gestört wird, zahlt alles, was ich wahrnehme, auf diese Vorhersage ein. Ich nehme auch dann keine Unterschiede wahr, wenn jemand etwas zu 90 Prozent anders macht“, so Andreas Benkowitz weiter.

Kategorien an sich sind praktisch, denn sie ersparen unserem Gehirn eine Menge Rechenzeit. Wenn eine bestehende Kategorie aber nicht (mehr) nützlich ist, genügen keine kurzen Veränderungsimpulse, um sie zu ändern. Sie kann nur aufgelöst werden, wenn man aktiv Aufmerksamkeit – positive Irritation – erzeugt, die die Vorhersagen des Gehirns so durcheinanderbringen, dass es gar keine andere Chance hat, als neue Kategorien zu bilden: Erst so kann sich das Mauerblümchen transformieren.

Aber … wohin? Wenn jedes Redaktionsteam, wenn es nur will, die Möglichkeit hat, seine Kategorie zu wechseln, anders wahrgenommen zu werden, sichtbarer zu werden und einen größeren Beitrag zu leisten, welche Zielkategorie ist dann die beste?

Ab jetzt ein Kristall

Die Antwort ist, wen wundert es, ein klares „kommt drauf an“. Jede Organisation ist anders und braucht andere Kategorien. Fabrizio Ferri-Benedetti sagte im Interview: „To become a good writer, it helps to read a lot. To make a good job in technical documentation, you have to be a good reader of everything that’s going on. This support function to project management brings lots of value. I’m not just a writer – I am a very involved reader of what is happening in projects.“

Technische Redakteure aller Branchen haben eines gemeinsam: Um gute Arbeit zu leisten, benötigen sie Informationen aus allen Ecken und Enden des Unternehmens. Wie in einer mit Informationen gesättigten oder übersättigten Lösung sind sie die Kristallisationskeime, an denen etwas entsteht, das ein integraler Bestandteil des Lebenszyklus von Produkten ist.

Reichlich metaphorisch, ja? – Es ist ein Beispiel von vielen möglichen, das für Ihre Situation passen kann. Nehmen Sie es als Ausgangspunkt für das Finden der eigenen, idealen Kategorisierung. Denn, so Ferri-Benedetti weiter, „once you really research the impact of your contribution, it’s quite easy to break out of the cost center mind-set. You need to realise and measure that techdoc is part of the experience we’re delivering.“ Ob seine Erkenntnis für Sie in meinem Vorschlag des Kristallisationskeims mündet oder einem anderen Konzept, liegt bei Ihnen – eine Metapher ist jedenfalls immer eine gute Basis.

Apropos Kristallisationskeim: Die Initiative zur Veränderung geht meist von einer einzelnen Person aus, entweder weil sie den Status quo satt hat („weg-von-Motivation“) oder weil sie etwas Neues, Positives bewirken will („hin-zu-Motivation“) – oder idealerweise beides. Wenn Sie ein Team mit Technischen Redakteuren führen, hilft es nichts, einen Change-Agent zu bestimmen oder in bauchkrampfigen Meetings per Akklamation bestimmen zu lassen. Wie schon erwähnt ist ein Problem bei Technischen Redakteurinnen und Redakteuren: „that they typically wait for a task to arrive. They seldom anticipate and are not proactive.“ Doch alleine die Realisierung, dass es möglich sein kann, etwas zu verändern, kann schon eine Bewegung in der festgefahrenen Kategorie auslösen – denn die existiert natürlich auch in der Selbstwahrnehmung der Redakteure. Fabrizios Beschreibung seines Jobs ist ein Musterbeispiel für eine Sinn-volle Selbstwahrnehmung: „I’m proud of the job I am doing, mostly because I know that I’m actively helping others to do a better job.“

Die Zielkategorie ist gefunden – und wie geht es weiter? Als ersten Schritt empfehle ich (wie immer), sich darauf zu besinnen, dass die eine Hand im Unternehmen oft nicht nur nicht weiß, was die andere macht, sondern dass sie gar nicht weiß, dass es sie überhaupt gibt. Ein wenig „Zeigst du mir deins, zeig ich dir meins“ wirkt hier Wunder, um eine erste kommunikative Basis zwischen Abteilungen zu schaffen.

Zur Erinnerung: Change wirkt dann, wenn er von unten initiiert und nach oben getragen wird. Cheat-Codes zum Überspringen von Ebenen gibt es nicht; Abkürzungen führen zu instabilen Ergebnissen. Vor allem in großen Organisationen blitzen Initiativen schon an den Vorzimmern der C-Levels ab, weil Kategorien wie „Dienstleister“ oder sogar „Kostenstelle“ noch eingemeißelt sind.

Das mysteriöse „Empowerment“ zur positiven Irritation entsteht, wenn ein Mitarbeiter – womöglich als Kristallisationskeim – herausfindet, dass er mit dem, was er macht, einen positiven Beitrag an anderer Stelle im Unternehmen leisten kann. Mit dieser Eigeninitiative kann er sich mit einem ebenso motivierten Mitarbeiter aus Abteilung X zusammensetzen und überlegen, wie beide von einer besseren Integration profitieren können. Gibt es bereits etablierte Messgrößen im Support? Was sagt das Web-Team zu den Analytics-Ergebnissen der FAQs? Könnte man mal bei Sales anklopfen und nach den Alltagsschmerzen der Kunden fragen? Verpacken Sie das Ganze dann nicht in die üblichen 08/15-Präsentationen. Verpacken Sie es vielmehr in positive Irritationen, um den Rezipienten keine Möglichkeiten zu lassen, Sie nicht anders als gewohnt wahrzunehmen.

„Erst wenn das Gespann aus den Teams den Nutzen aus Unternehmenssicht ungewöhnlich formulieren und präsentieren kann, kann der Schritt in die höheren Hierarchiestufen gelingen,“ so Andreas Benkowitz. Sie lösen also, nach und nach, und mit mehr und mehr positiver Irritation, die alte Kategorisierung auf und etablieren eine neue. Und dann geht es weiter, gemeinsam mit diesen Kollegen, zum nächsten Team, vielleicht sogar im nächsthöheren Stock.

Wenn dann nach einigen Jahren – darf ich kurz fantasieren? – die Technische Redaktion zur wertschöpfenden Stabsstelle geworden ist, können auch Recruiting und Onboarding an die neue Realität angepasst werden. Ferri-Benedetti: „From the company’s perspective, it should be clear which mindset they want in their techcomm people: ‘Here is the product, write the doc’ or ‘You’re part of the whole.’“ Auch die User Experience war einst Mauerblümchen und ist heute aus dem Produktlebenszyklus nicht mehr wegzudenken; ähnliche Entwicklungen gibt es in der Lokalisierung und Terminologie, die ihrerseits schon eng mit der Technischen Redaktion verwoben sind.

Ach, und die Flechten? Beim – für Nichtbotaniker – zweiten Hinsehen sind Flechten alles andere als pflanzliche Underdogs, sondern eine Pflanzengruppe, die „durch eine hochentwickelte Symbiose zwischen Pilzen und Algen charakterisiert ist. Die Symbionten leben in engem Kontakt miteinander und bilden eine dauerhafte physiologische Einheit. Die Doppelnatur ist äußerlich nicht erkennbar.“ [1]

Symbiose. Ganz clever eigentlich, nicht wahr?

Link zum Beitrag

[1] www.spektrum.de/lexikon/biologie/flechten/24819

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