Die Redaktion macht Geschichten

Text: Virginia Kilpert

Wie gelingt es, die Verständlichkeit eines Produktes und der dazugehörigen Informationen zu erhöhen? Und wie lassen sich Zielgruppen ansprechen, die eine Anleitung normalerweise nicht in die Hand nehmen? Zum Beispiel mit einer Technischen Dokumentation in drei Akten.

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 09:23 Minuten

Von dem britischen Philosoph Francis Bacon stammt der Satz „Wissen ist Macht“. Die Macht, das wussten bereits auch die ersten Homo Sapiens, liegt bei dem, der das Wissen am besten weitergeben kann. Gut verpackt in Geschichten, die die Menschen interessieren. So stand zum Beispiel bei dem Magier, der Asterix und Obelix in ihrem gallischen Dorf besuchte, nicht unbedingt wirkliches Wissen im Vordergrund. Es ging um das Erzählen der richtigen Geschichten. Sie gaben ihm die Macht, die Dorfbewohner hinters Licht zu führen und damit seinen Unterhalt zu verdienen. Dass es nicht relevant ist, ob das Wissen wahr oder falsch ist, äußert auch Francis Bacon. Es ist wichtig, ob es Macht verleiht. Die Macht, andere von etwas zu überzeugen. Die Macht, etwas Nützliches für andere hervorzubringen [1].

Diese Macht der Überzeugung nutzt auch das Marketing für sich. Marketingfachleute wollen Informationen vermitteln und erzählen dazu Geschichten – sie machen „Story­telling“, wie es heute heißt. Sie erzählen nicht nur über das Produkt, sondern auch über die Marke. Natürlich möchte ich das Marketing nicht mit dem Magier aus Asterix und Obelix vergleichen, aber der Gedanke dahinter ist der gleiche: Gut entwickelte Geschichten für den Kunden. Geschichten, die überzeugen, aber gleichermaßen einem kritischen Kundenblick standhalten. Auch wir Technische Redakteurinnen und Redakteure können Geschichten verwenden, um unseren Kunden den Zugang zu Informationen zu erleichtern – ganz ohne Magie.

Die Aufgabe von Geschichten

Geschichten machen uns als Menschen einzigartig und heben uns von anderen Spezies ab. Noch tief in den Höhlen versteckt, gaben die Homo Sapiens Informationen mit Hilfe von Wandmalereien weiter. Auf dem Weg von der Wandmalerei zum Papyrus wurden auch die Geschichten gehaltvoller. Es entstanden Mythen und epische Geschichten, die nicht nur das menschliche Leben aufzeichneten, sondern auch auf ihre Art versuchten, Übermenschliches und Mystisches erklärbar zu machen. So übersteht Odysseus in Homers Werk alle Widrigkeiten, hält Versuchungen stand und kehrt als Held in die Heimat zurück.

Noch heute nutzen wir diese Geschichte, wenn wir von unseren stressvollen Odysseen auf dem Amt zurückkehren. Oder wer fühlte sich nicht schon einmal wie Asterix und Obelix auf der Suche nach dem Passierschein A38? Wir können mit diesen Geschichten mitfühlen. Sie wecken unser Interesse und gewinnen unsere Aufmerksamkeit, indem sie mit unseren Emotionen spielen. Sei es die Unzufriedenheit über die Bürokratie oder die Liebe zwischen Cinderella und Prinz Charming.

Unser Gedächtnis erzählt mit

Das biografische oder auch narrative Gedächtnis des Menschen liebt diese Informationsvermittlung. Wir fügen damit Erlebnisse zu einer Geschichte zusammen und verknüpfen diese emotional. Diese Verknüpfungen sind nachhaltig und wecken unsere Neugier sowie unsere Anteilnahme bei neuen Erzählungen. Sie erreichen das Unterbewusstsein, bringen zum Nachdenken und lassen Erkenntnisse reifen. Der analytische Teil des Gedächtnisses findet dann logische Begründungen für unsere Entscheidung, indem er diese mit Fakten und Zahlen belegt. Dadurch bieten uns die Geschichten Orientierung, Verständlichkeit und Sicherheit. Unser Gedächtnis entwickelt daraus eigenständig Handlungs- bzw. Erzählmuster. Diese können wir passend zu einzelnen Situationen abrufen [2]. Jeder von uns ist somit ein geborener Geschichtenerzähler. Der eine von Natur aus mehr, der andere benötigt ein Rezept, um die richtigen Zutaten für eine Geschichte miteinander vermengen zu können.

Aber was macht einen guten Erzähler bzw. Storyteller aus? Mehrere Faktoren beeinflussen, ob uns eine Geschichte gefällt oder nicht.

Suchen und Finden von Geschichten

Es wird oft gesagt, dass die besten Geschichtenerzähler auch die besten Zuhörer sind. Aus diesem Grund sollte ein Geschichtenerzähler Interesse und Neugier an den verschiedensten Dingen mitbringen. Denn eine Geschichte zu finden, ist gar nicht so schwer, wenn man sich nur richtig umschaut. Es bedeutet nur, sich detailliert mit allen möglichen Aspekten zum Beispiel eines Unternehmens oder Produkts auseinanderzusetzen. Folgende Fragen sollte man sich stellen:

  • Was für Geschichten hat das Unternehmen schon erlebt?
  • Welches Unternehmensbild möchten wir vermitteln?
  • Wo liegt der Ursprung des Unternehmens?
  • Welche Ereignisse waren prägend?
  • Gab es bei der Entwicklung eines Produktes bestimmte Vorstellungen, Hindernisse oder sogar Träume?
  • Kennen wir die Meinung der Kunden?

Es geht um eine gründliche Recherchearbeit, denn nicht immer ist die naheliegende Geschichte automatisch die passende.

Ein Held für alle Fälle

In jeder guten Geschichte gibt es einen Helden. Dieser Held hat eine besondere Kernbotschaft inne. Er kämpft zum Beispiel für die Liebe, die sich gegen alle Widrigkeiten durchsetzt. Hierbei kann der Held sowohl Stärke als auch Schwäche zeigen. Durch seinen starken Willen kommt er auch mit Hindernissen zurecht und überwindet diese, zum Beispiel durch das Entdecken einer Begabung. Innerhalb der Geschichte erkennt der Held seine Stärke und setzt diese zur Problemlösung ein. Im Produktumfeld sind es oft die eigenen Kunden, die als Helden der Geschichte dargestellt werden. Zum Beispiel der Heimwerker, der mit Hilfe eines bestimmten Produktes sein Projekt ganz allein schafft.

Die Perspektive macht’s

Mit dem Protagonisten entscheidet sich, wie wir die Geschichte erzählen wollen und wie der Konsument diese erleben soll. Lassen wir den Protagonisten aus seiner Sicht mit seinen Gefühlen und seinem „begrenzten“ Wissen die Geschichte erzählen? Oder geben wir der Geschichte einen allwissenden Erzähler, der die Situation und Gefühle aller kennt? Es kommt darauf an, was wir beim Konsumenten erreichen wollen. Oftmals werden Perspektiven gern gemischt. In vielen Autowerbungen erkennen wir diese Methode: Erst wird aus Sicht des Kunden gezeigt, was er für ein Problem hat. Dann folgt der allwissende Erzähler und eröffnet, was das Produkt alles kann und was die Menschen darüber denken. Es soll Vertrauen aufgebaut werden, so dass sich der Kunde durch das Produkt wohlfühlen kann.

Wo bleiben die Gefühle?

Gerade die Gefühle, die der Held mitbringt, sind für eine Geschichte wohl der relevanteste Aspekt. Denn die Gefühle, die der Held im Kunden weckt, sind Gefühle, die er unterbewusst aus anderen ähnlichen Ereignissen aufgenommen hat. Sie helfen dabei, den Konsumenten zu erreichen, zu fesseln und im besten Fall einen gewünschten Handlungsimpuls zu geben. Dabei sind es oft die einfachen Emotionen, die die breite Masse berühren, wie Hass, Liebe, Ernüchterung, Zweifel, Zuneigung oder Angst. Die richtige Emotion auszuwählen, hängt stark von der Grundsituation der Geschichte und vom gewünschten Ergebnis ab. Eine Story kann mit Zweifeln beginnen und am Ende durch die Überwindung der eigenen Angst mit einem versöhnlichen Ende abschließen.

Ein wenig Spannung muss sein

Doch ein Faktor ist besonders entscheidend dafür, ob wir uns von einer Geschichte fesseln lassen: der Spannungsbogen. Der Kunde muss von Anfang bis Ende interessiert sein. Er muss wissen wollen, wie es weitergeht und was für ihn am Ende herauskommt. Es muss nicht nur Spannung erzeugt, sondern auch gehalten werden, bis es am Ende zur Erlösung kommt. Gerade Alfred Hitchcock war ein großer Puppenspieler, wenn es um Spannung ging. Der Filmregisseur spielte mit den Erwartungen der Menschen auf eine einfache, aber sehr kunstvolle Art und Weise. Dabei arbeitete Hitchcock vor allem mit einer nüchternen Berechnung. Er spannte die Zuhörer auf die Folter bzw. führte sie mit Absicht in die Irre, um ihre Aufmerksamkeit zu erhalten. Spannung kann aber auch erzeugt werden, indem wir den Konsumenten mit Begeisterung anstecken. Das gelingt zumeist, wenn man selbst zu 100 Prozent hinter dem Produkt bzw. der Geschichte steht.

Alle Zutaten in einen Topf

Am Ende müssen alle Zutaten in einen Topf, doch nicht wüst durcheinander, sondern schön nach Rezept. Schließlich soll uns der Kunde auch verstehen. Das gelingt mit Hilfe einer einfachen und nachvollziehbaren Struktur. Hier bedienen wir uns einer altbewährten Methode – der Geschichte in drei Akten:

  • In der Einleitung wird das Problem bzw. die Situation geschildert und die Hauptfigur vorgestellt. Die Geschichte wird also in eine bestimmte Richtung manövriert, in die der Zu­hörer eintauchen soll. Zum Beispiel tritt ein Hindernis auf, das später auf­gelöst bzw. überwunden werden soll.
  • Darauf folgt eine Temposteigerung im Mittelteil. Dieser Akt teilt sich oft in Konflikt und Wendepunkt. Hier wird der Weg verdeutlicht, wie das Problem gelöst werden kann. Der Held wird mit einem Ereignis konfrontiert, das ihn zum Umdenken bringt. Neu fokussiert begibt er sich dann auf die Zielgerade.
  • Zum Schluss wird die Situation aufgelöst. Der Weg zum Ziel wird verdeutlicht und der Kunde versteht nun genau, was das Ziel der Geschichte ist.

Ein Beispiel für einen klassischen Dreiakter zeigt Tabelle 01.

Struktur im Storytelling

Tab. 01  Quelle Virginia Kilpert

Der Kunde entscheidet

Doch wieso ist das relevant für uns als Technische Redakteurinnen und Redakteure? Soll sich doch das Marketing um die Kundenbedürfnisse kümmern. Schließlich ist das Erzählen von Geschichten dort offenkundig eine bewährte Methode.

Das mag durchaus sein, doch mit dem ständigen Wandel von Technologien sowie der Zielgruppe der Digital-Natives müssen auch wir unsere Fähigkeiten neu aufstellen und überlegen, wie wir unsere Kunden trotz technisch komplexer Inhalte bei Laune halten können [3]. Der gute alte 300-Seiten-Handbuchleser ist eine aussterbende Spezies. Das Interesse an einer seitenlangen Dokumentation ist schwindend gering.

Umso mehr ist es wichtig, seine Zielgruppen zu kennen und zu wissen, wie man sie erreichen kann. Das Lesen und Schreiben ist schon lange nicht mehr das Wichtigste. Fehler werden zumeist hingenommen, wenn die Geschichte gut erzählt wird und ein (meist kostenfreier) Mehrwert vorhanden ist. Diese Art, Geschichten zu erzählen, kann man sehr gut auf Instagram beobachten. Viele nutzen dort ihre persönlichen Geschichten, um Produkte gezielt zu vermarkten und damit Geld zu verdienen.

Man merkt schnell, dass die heutige Generation ihre Informationen auf eine völlig andere Art sammelt oder sucht. Ein Foto hier, ein kurzer Tweet mit einem Link da und noch schnell ein Video hochgeladen. So einfach wie auf Instagram und Co. gelebt und geteilt wird, so einfach soll auch die Informationsbeschaffung in anderen Bereichen sein.

Ein Plädoyer an das Marketingteam

Doch wo bekommen wir die Geschichten her? Müssen wir uns die Geschichten selber ausdenken? Nein. Sollten Sie eine Marketingabteilung im Unternehmen haben, dann statten Sie ihr doch einfach mal einen Besuch ab. Dort haben sie die Informationen zu all den wichtigen Aspekten einer Geschichte. Oftmals sind sogar Geschichten zu den Produkten, der Zielgruppe und zum Unternehmen bereits entwickelt, so dass wir uns einfach bedienen können. Damit haben wir ein Gerüst, in das wir unsere Informationen einbauen können.

Es ist wichtig zu erkennen, dass wir von unserem Marketingteam lernen können. Wir können Synergien gemeinsam nutzen und an einem Strang ziehen. Doch lassen sich neue Zielgruppen und Storytelling mit der Technischen Kommunikation vereinbaren? Man kann dies weder mit Ja noch mit Nein beantworten. Es kommt wie immer auf das Vorhaben und das Ziel an. Geschichten erzählen ist auch „nur“ eine Methode, die nicht wie eine eierlegende Wollmilchsau überall angewendet werden kann. Ist es sinnführend, eine 300-seitige Anleitung mit der Storytellingmethode aufzuarbeiten? Hierfür gibt es ein klares Nein.

Kommt hier die Zukunft?

Gedruckte Dokumente werden bereits heute nur in seltensten Fällen zu Rate gezogen. Oftmals auch nur, wenn die Not so groß ist, dass man nicht mehr weiterweiß. Doch seien wir ehrlich, wenn wir es googlen können, dann tun wir es auch. Wir lassen uns von How-to-Videos in zumeist einer Minute etwas erklären. Ganz schnell und einfach.

Genau hier kann auch das Storytelling Anschluss an die Technische Dokumentation finden – in Kurzanleitungen, How-to-Videos oder auch in Infografiken. Eine Geschichte wirkt am besten, wenn wir sie mit Bildern verbinden können. Denn Bilder gehen viel leichter in unser Gedächtnis über als Texte und sind auch besser wieder abrufbar.

So können in einem How-to-Video zum Beispiel mit Hilfe von Storytelling und der Familie Müller die Features ihres neuen Autos erklärt werden: Jetzt, da Hans 18 ist, darf er endlich auch mit dem neuen Auto fahren. Als er mit sechs Freunden zu einer Veranstaltung fahren möchte, steht er aber vor der offenen Hintertür und verzweifelt daran, wie er die dritte Sitzreihe hervorzaubern kann. Da fällt ihm ein, wie es Papa Müller immer gemacht hat. Nachdem er noch einmal im Kopf durchgegangen ist, was der Papa getan hat, setzt er es im Auto selber um. Sein Vater, der an der Haustür lehnend die Situation beobachtet hat, kommt zu ihm und klopft ihm respektvoll auf die Schulter. Am Ende sieht man Peter mit seinen Freunden am Veranstaltungsort ankommen.

Diese Story zeigt alle drei Akte, wobei hier das Augenmerk auf dem Erklären der Funktionalität der dritten Sitzbank liegt. Für das bessere Verstehen wird die Handhabung einmal kurz und knapp und danach von Peter detailliert gezeigt. Mit Familie Müller als Hauptcharaktere können immer wieder neue Geschichten über einzelne Funktionen und Features erzählt werden. Nach den ersten Erklärvideos kennen wir Familie Müller. Sind die Videos für den Kunden verständlich und anwendbar gewesen, entwickelt er Vertrauen zu ihnen und wird sich diese und auch neue Videos bei Bedarf immer wieder anschauen.

Es ist also viel mehr das Priorisieren von bestimmten Themen, die die Anwendung von Storytelling in der Technischen Kommunikation möglich macht und dem Kunden einfach und unterhaltsam eine bestimmte Handlungsweise oder ein neues Feature erklärt. 

Literatur zum Beitrag

[1] Harari, Yuval Noah (2013): Eine kurze Geschichte der Menschheit.

[2] Adamczyk, Gregor (2018): Storytelling – Mit Geschichten überzeugen. 2. Auflage. Haufe Taschenguide.

[3] Ein digital Native ist eine Person, die in der digitalen Welt aufgewachsen ist – „Generation Z“; s. Förtsch, Christof (2018): Ein Blick ins Aquarium. In: technische kommunikation, H. 2, S. 25–28. Oder: https://technischekommunikation.info/schwerpunktthemen/ein-blick-ins-aquarium-887/

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