Schnipsel statt Silben

Text: Markus Reiter

Emojis, Abkürzungen, Vereinfachungen – das Internet beeinflusst, wie wir Texte schreiben. Hier sind die drei wichtigsten Trends einer Sprache im Wandel.

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 08:04 Minuten

Nicht nur Privatpersonen nutzen die Sozialen Medien. Auch Behörden sind mittlerweile auf den Kanälen präsent, etwa die Berliner Polizei auf Facebook. Abbildung 01 zeigt ein Beispiel, was deren Socialmedia-Team dort postet.

Vergehen eines Rasers.

Abb.01 Die Berliner Polizei hat einen Raser dingfest gemacht. Was alles auf sein Konto geht, erklärt die Berliner Polizei auf Facebook - in ganz eigener Weise. Quelle Berliner Polizei; Facebook

Wer noch mit den steifen Polizeimeldungen früherer Jahre und Jahrzehnte vertraut ist, reibt sich verwundert die Augen: Supereinfache Sätze, „&“ statt „und“, außerdem kleine Bildchen anstatt bürokratischer Begriffe wie „Fahrzeughalter“ oder „Lichtzeichenanlage“. Hier wird offensichtlich, dass sich die Schriftsprache durch das Internet gewaltig verändert hat, selbst bei einer Behörde wie der Polizei.

Das gilt besonders für die Art und Weise, wie sich Menschen in den Sozialen Medien verständigen. Vermutlich haben sich sehr viele Schreibende auch in der Vergangenheit nicht um einen komplexen Satzbau und eine ausgefeilte Semantik geschert. Aber die persönlichen Notizen, Postkartengrüße und Einkaufszettel in ihrem eher informellen Deutsch blieben bislang dem Blick der Öffentlichkeit entzogen. Dank Facebook, Twitter und Instagram können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in weitaus größerem Maße schriftliche Äußerungen analysieren und so den Sprachwandel unmittelbar verfolgen. Zudem lassen sich Marketingtexter, Öffentlichkeitsarbeiterinnen, Journalisten und offenbar auch das Social-Media-Team der Berliner Polizei von diesen Veränderungen beeinflussen. Das heißt: Der informelle Sprachwandel bei vielen Millionen Internetnutzern wirkt auf die öffentliche schriftliche Kommunikation der Profis zurück. Diese adaptieren ihn, imitieren ihn und professionalisieren ihn.

Daher ist es gut zu wissen: Wie und unter welchen Voraussetzungen verändert das Internet die Sprache? Es lassen sich hierzu drei Ebenen betrachten.

1. An die Zielgruppe anpassen

Lange Zeit haben Autorinnen und Autoren das Lese- und Verständnisniveau ihrer Leserschaft ignoriert. Um ernst genommen zu werden, mussten Texte ein gewisses Maß an Komplexität haben. Sogar die Schilder mit der Parkordnung von öffentlichen Grünanlagen lasen sich daher oft wie Aufsätze aus einem juristischen Proseminar. Und wer einen Brief seiner Hausverwaltung erhielt, stieß auf Formulierungen von der Klarheit einer Nostradamus-Prophezeiung.

Dabei ignorierten die Verfasser, dass es schon immer einen erheblichen Anteil der Bevölkerung gab, der große Schwierigkeiten hatte, längere Texte zu lesen und zu verstehen. Mit längeren Texten sind zwei bis drei Absätze gemeint. Über sechs Millionen Menschen zählen in Deutschland zu den funktionalen Analphabeten. Diese Gruppe verfügt nur über ein rudimentäres Leseverständnis. Funktionale Analphabeten können einzelne Wörter und mit Mühe ein paar Sätze lesen. Geschriebene Texte von größerem Umfang verstehen sie aber nicht. Oft haben die Betroffenen in der Schule den Anschluss verloren und versuchen, im Alltag ihre Schwäche zu verbergen.

Funktionale Analphabeten sind eine von vier Zielgruppen der „Leichten Sprache“, also eine extrem vereinfachte Form des Schriftdeutschen. Die anderen drei sind Menschen mit kognitiven Einschränkungen, Nicht-Muttersprachler, die das Deutsche nicht gut beherrschen, sowie Demenzkranke. Linguisten beobachten inzwischen, dass Elemente dieser stark vereinfachten Sprache Eingang in die normalen Texte im Internet finden. Dazu gehören eine sehr simple Syntax, eine eingeschränkte Semantik (also einfache Wörter anstatt komplizierter Begriffe) und eine reduzierte Grammatik (zum Beispiel der Verzicht auf den Genitiv).

Zusätzlich zu den sechs Millionen funktionalen Analphabeten, die rund 15 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland ausmachen, rechnen Forscher mit weiteren etwa 25 Prozent der Bevölkerung, die auf eine einfache Sprache angewiesen sind. „Einfache Sprache“ ist ein weniger scharf umrissenes Konzept als „Leichte Sprache“, beruht aber im Wesentlichen auf ähnlichen, allerdings nicht ganz so strengen Regeln.

Mit anderen Worten: Vier von zehn Deutschen haben Mühe, flüssig zu lesen. Das Internet ist aber bislang noch stark auf schriftliche Kommunikation angewiesen. Kaufprozesse werden schriftlich abgewickelt, Produktinformationen sind zu einem erheblichen Teil schriftlich und mündliche Kommunikation, zum Beispiel über eine Telefonhotline, wird zunehmend in einen schriftlichen Chat mit dem Kunden überführt. Um dabei Menschen mit Leseschwäche nicht auszuschließen, müssen Internetautorinnen und -autoren auf eine einfachere Sprache setzen.

2. Leseverhalten verändert sich

Im Januar 2019 unterzeichneten 130 führende Forscherinnen und Forscher, die sich mit Leseprozessen im Gehirn beschäftigen, in der norwegischen Stadt Stavanger eine Erklärung mit dem Titel „Über die Zukunft des Lesens“. Darin heißt es unter anderem:

„Eine Meta-Studie, die 54 Einzelstudien mit mehr als 170.000 Probanden ausgewertet hat, belegt, dass längere informierende Texte auf Papier besser verstanden werden als auf einem Bildschirm. Das gilt besonders, wenn sich die Leser unter Zeitdruck befinden.“

Dies gelte, so die Wissenschaftler weiter, auch bei so genannten „Digital Natives“, also jüngere Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen sind. Sie sind nicht in der Lage, Internettexte besser zu verstehen als Ältere.

Warum ist das so? Die Forscher geben folgende Erklärung:

„Unsere embodied cognition (das bedeutet die Tatsache, dass alles, was wir lernen, wissen und können, von den Eigenschaften unseres Körpers abhängt) könnte zu den Unterschieden beim Verstehen und Behalten zwischen dem Lesen auf Papier und dem Lesen auf dem Bildschirm beitragen.“

Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sich unser Leseverhalten bei Texten auf dem Bildschirm ändert. Maryanne Wolf von der Universität von Kalifornien, eine der führenden Leseforscherinnen der Welt, spricht vom Unterschied zwischen dem „schnellen Lesen“ und dem „langsamen Lesen“. Beim anspruchsvollen langsamen Lesen, wie es bei Büchern und Zeitschriften üblich ist, erreicht der durchschnittliche Leser eine Geschwindigkeit von 250 bis 350 Wörtern in der Minute. Diese Art der Lektüre bezieht zahlreiche Hirnareale ein und führt dazu, dass große Teile des Gelesenen behalten werden.

Beim schnellen Lesen, wie es auf Bildschirmen üblich ist, erreichen geübte Leser hingegen eine gut doppelt so hohe Geschwindigkeit von rund 600 Wörtern in der Minute. Dies geht jedoch zu Lasten des Verstehens und auch der kognitiven Involviertheit. Einfach ausgedrückt: Texte im Internet werden in der Regel oberflächlicher gelesen, sie werden gescannt. Man merkt sich ihren Inhalt schlechter und das Gehirn verarbeitet ihn weniger intensiv. Wolf verweist auf Studien, dass die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne von Lesern in den letzten Jahren deutlich abgenommen habe.

Das wissen natürlich inzwischen die Autorinnen und Autoren von Internettexten. Sie haben darauf reagiert, indem sie schlichter schreiben. Wolf spricht von einer „zunehmenden Angleichung unseres Leseverhaltens (der Art, wie wir lesen) und unseres Schreibstils (der Art, was wir zu lesen bekommen)“. Am deutlichsten wird das durch die Form der Listicals (zum Beispiel: „7 Dinge, die du unbedingt über Diäten wissen musst“). Die Form erzwingt es, argumentative Muster und komplexe Zusammenhänge zu vereinfachen. Empirische Auswertungen zeigen, dass Listen fast immer mehr Leser erreichen als Texte ohne Listen, selbst wenn diese grundsätzlich gleichen Inhalts sind.

Außerdem berücksichtigen Internettexte das scannende Lesen und die verkürzte Aufmerksamkeitsspanne, indem sie zahlreiche Absätze machen, häufig Aufzählungen nutzen, viele Zwischenfazits ziehen und Inhalte generell in ihrer Komplexität reduzieren.

3. Lockeren Ton treffen

Die amerikanische Linguistin Gretchen McCulloch beschäftigt sich seit Jahren mit den Auswirkungen des Internets auf die Sprache. In ihrem Buch „Because Internet. Understanding the New Rules of Language“ beschreibt sie eine kleine Begebenheit, bei der ihr bewusst wurde, wie sehr das Internet unsere alltägliche schriftliche Kommunikation verändert hat. Sie habe eine E-Mail mit der Anrede „Hello“ erhalten – und dabei im ersten Moment gestutzt. Beim Absender handle es sich wohl um eine ältere Person, habe sie vermutet. Denn „Hello“ kam ihr reichlich formal vor. Jüngere Menschen hätten wohl einfach „Hey“ oder „Hi Gretchen“ geschrieben.

Wer im Englisch-Unterricht noch gelernt hat, einen Brief mit „Dear Mr. Carter“ oder, wenn es sich um eine gute Bekannte handelt, höchstens einmal mit „Dear Sarah“ zu beginnen, muss zweimal hinsehen. Das Internet hat die Tonalität von Texten verändert. Sie werden deutlich informeller und lehnen sich an die gesprochene Sprache an. Das erkennt zum Beispiel auch Google. Das jüngste Update des Suchmaschinen-Algorithmus berücksichtigt einen „conversational tone“, wenn Menschen eine Suchphrase eingeben. „Conversational tone“ lässt sich am besten mit „Alltagssprache“ übersetzen. Das ist nicht ganz Umgangssprache, kommt aber der gesprochenen Sprache viel näher als das früher übliche steife Schriftdeutsch.

McCulloch beobachtet in ihrer Analyse weitere Phänomene einer informeller werdenden Sprache im Internet. So werden Akronyme wie „lol“ („laughing out loud“) oder „rl“ („real life“) verwendet. Sie verkürzen und vereinfachen die Texte, geben aber dem Geschriebenen zusätzlichen Kontext. Die Linguistin Konstanze Marx, die einen Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Greifswald innehat, spricht von „Sprachökonomie“. Dazu gehört, dass Silben statt durch Buchstaben durch Zahlen ausgedrückt („N8“ für „night“, „4“ für „for“, „2“ für „to“) und Buchstabenfolgen durch ähnlich lautende einzelne Buchstaben verkürzt werden („u“ statt „you“). Die Beispiele sind nicht zufällig auf Englisch. Denn das Englische vermischt sich in der Internetsprache immer stärker mit deutschsprachigen Textteilen.

Zusätzlich stehen Emojis im Text. Diese Bilder ergänzen die Schrift und geben ihr eine zusätzliche Dimension. Konstanze Marx spricht in einem Hörfunkinterview davon, dass Emojis einen Zusatzwert besäßen für die „schriftliche Interaktion, der ja doch ein bisschen was von der Mündlichkeit fehlt.“ Sie ersetzen, was in der mündlichen Sprache durch die so genannten prosodischen Merkmale, also Sprachmelodie und Betonung, durch Gesten und Gesichtsausdruck vermittelt wird. Neuere Studien zeigen zudem, dass Emojis bei den Lesern in vielen Fällen die Seriosität der Textbotschaft nicht mehr mindern. Daher dürfte die Berliner Polizei weiterhin ernst genommen werden, obwohl sie ihre Posts auf Facebook durch Emojis ergänzt.

Ein weiterer Aspekt ist die phatische Kommunikation, die auch in geschriebenen Texten erfolgt. Mit diesem Fachbegriff bezeichnen die Linguisten Sprechakte, die ausschließlich der sozialen Interaktion dienen. Das wäre im Deutschen zum Beispiel „Hey, was läuft?“ oder im Englischen „Hi, what’s up?“. Auch an dieser Stelle drückt sich der Trend aus, dass Sprache im Internet alltagssprachlicher wird.

Bleiben Memes, pointierende Medienschnipsel. Sie ersetzen komplexe Äußerungen und dienen dazu, Sachverhalte zu kommentieren. Dabei ersetzen sie komplexere sprachliche Äußerungen, bringen manche Aussagen damit aber knapper auf den Punkt, als das ein Text könnte.

Eine Sprache im Verfall?

Wie nicht anders zu erwarten, stößt der Sprachwandel durch das Internet auf vielfältige Kritik. Haben wir es mit dem Untergang des Abendlandes zu tun? Der Vorwurf ist immer leicht zur Hand. Die Mahnungen vom Ableben der deutschen Hochsprache dürften aber verfrüht sein. Zum einen haben noch nie so viele Menschen Texte (und seien sie noch so kurz und orthographisch herausfordernd) geschrieben wie heute. Facebook-Posts, Instagram-Captions und WhatsApp-Messages sind schriftliche Äußerungen, die in diesem Umfang früher nie getätigt worden sind.

Zum anderen ignoriert die Rede vom Verfall der deutschen Sprache, dass wir 2021 nicht mehr so schreiben und sprechen, wie die Menschen es zum Beispiel im Jahre 1721 getan haben, von den Jahren 1521 oder 1221 ganz zu schweigen. Der amerikanische Linguist Steven Pinker fasst seine Kritik an dieser Form der Sprachkritik so zusammen: „Wenn Menschen älter werden, verwechseln sie die Veränderungen bei sich selbst mit den Veränderungen in der Welt und die Veränderungen in der Welt mit einem Niedergang – die Illusion der guten alten Zeit. Daher glaubt jede Generation, dass die Jugend von heute die Sprache immer weiter verhunzt und die Zivilisation damit in den Abgrund reißt.“

Vermutlich werden daher heutige Phänomene des Sprachwandels durch das Internet in ein oder zwei Generationen den dann lebenden Sprachkritikern als letztes Aufflackern einer gediegenen Hochsprache erscheinen.

Literatur zum Beitrag

Wolf, Maryanne (2019): Schnelles Lesen, langsames Lesen. Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen. München: Verlag Pinguin.

Aiken, Mary (2016): The Cyper Effekt. A Pioneering Cyberpsychologist Explains How Human Behaviour Changes Online. London: Verlag John Murray.

McCulloch, Gretchen (2019): Because Internet. Understanding the New Rules of Language. New York: Riverhead Books.

Drei wichtige Trend beeinflussen den Wandel.