„Minimalismus“ ist ein hässliches Wort. Schon wieder ein Ismus, hinter dem sich allerlei verstecken kann. Mit Ungereimtheiten ist also zu rechnen, Technische Redakteurinnen und Redakteure1 sollten einige Hintergründe kennen.
Am Anfang steht ein Trichter
Ein Lehrbuch wurde auf Anhieb erfolgreich: Georg Philipp Harsdörffer, Poetischer Trichter [1]. Kurz nach Erscheinen des ersten Bandes drängte der Verleger auf einen zweiten, dann den dritten [2].
Harsdörffer versprach Ungewöhnliches: Im Schnelldurchgang sollten Leser die Grundlagen der Poesie erlernen, um dann eigene Werke zum Besten geben zu können. Der Beginn des ersten Bandes zeigt das Besondere – sinngemäß: Ihre Zeit ist kostbar, ich will sie Ihnen nicht mit Unnötigem nehmen, sondern mich kurzfassen (Abb. 01).
Das Werk erschien in der Mitte des 17. Jahrhunderts und ist bis heute als „Nürnberger Trichter“ bekannt.
Das Versprechen des Autors konnte und sollte auch nicht eingehalten werden. „Trichter“ diente nach Hess eher als „werbewirksames Verkaufsargument“. Der Grund ist schnell gefunden: Zwar kann man Regeln mit etwas Arbeit erlernen, nichts geht aber in der Poesie ohne Talent. Das war auch in der Nürnberger Elite, zu der Harsdörffer gehörte, dünn gesät; im Pöbel, so der Autor, schon gar nicht [3].
Wie der Nürnberger Trichter vor diesem Hintergrund seine Berühmtheit bei einigen Technischen Redakteuren erlangen konnte, wäre rätselhaft, wenn man nicht an den Text in Abbildung 1 denkt: Nur keinen unnötigen Zeitverlust beim Leser.
Abb. 01 "Die Zeit ist edel und so schätzbar ..." Quelle Georg Philipp Harsdörffer
Englisch: The Nurnberg funnel
Lesern schnell zu Wissen zu verhelfen, ist das lohnenswerte Ziel. Dass man es nicht auf dem Weg bloßen Eintrichterns erreicht, wusste auch John Carroll. [4] Sein Buch erschien dennoch vor dreißig Jahren als „the Nurnberg funnel“.
Vielen Büroarbeitern kamen seit Mitte der 1980er manchmal die Tränen, wie sie mir in Schulungen seinerzeit berichteten. Jahrzente hatten sie eine ordentliche Arbeit geleistet, nun ging nichts mehr. Vor ihnen stand ein PC, der mit unverständlichen Regeln und Wörtern Bewährtes über den Haufen warf und Neues verlangte – 80 Zeichen auf 25 Zeilen: ein Albtraum.
Selbst neu gestaltete Oberflächen von Betriebssystemen und Programmen waren mitnichten intuitiv verständlich, obgleich sie sich alltäglicher Gegenstände metaphorisch bedienten wie Schreibtisch, Papierkorb oder auch Ordner1.
Man brauchte andere Schulungen und Handbücher. Sie mussten sich an den Auf- gaben und Arbeitsweisen der Anwender orientieren, anstatt die Maschine in den Vordergrund zu stellen. Die sonderbare Welt der Computer musste zurücktreten und wurde nur dann erwähnt, wenn es unverzichtbar war.
So verstand Carroll den Nürnberger Trichter: Keine Zeit stehlen und ran an den Speck – Minimalismus.
1 Carroll hatte auch Materialien für die Xerox 8065 und die Apple Lisa berücksichtigt.
Nach dem Trichter
In den 1990ern gewann das Konzept mindestens in den USA an Gewicht, und Carroll gab 1998 einen Sammelband heraus [5]. Er wurde mitgetragen von der STC, Society for Technical Communication. Bekannte Autoren lieferten dafür Beiträge, und „Minimalismus“ als Wortmarke war endgültig angekommen.
Im nächsten Schritt wurde der Begriff schärfer gefasst. Zu Beginn hatte man sich fast ausschließlich der Welt der Computerei gewidmet. Dort war der Wunsch nach schlankem und zugleich nützlichem Material entstanden.
Jetzt konnte man sich den Prinzipien zuwenden, auf denen solche Handbücher, Selbstlerneinheiten und Schulungen bauen, wenn sie erfolgreich sind:
1. Im Mittelpunkt steht die Handlung, nicht die Maschine oder die Software.
– Nicht-minimalistisch ist Technische Dokumentation, die sich nicht an dem orientiert, was der Benutzer braucht.
2. Handlungsanleitungen sind aus einem Arbeitsbereich des Anwenders.
– Handlungen, die nicht zum vertrauten Geschäft gehören, brauchen viele Zusatzinformationen, auf die man im Minimalismus verzichtet.
3. Wie man zu erwartende Fehler vermeidet, erkennt oder behebt.
– Nicht mit jedem vorstellbaren Fehler muss sich ein Anwender herumquälen, wichtig sind die tatsächlich auftretenden. Die kann er oft selbst beheben.
4. Die Information ist in sich geschlossen, keine langen Kapitel, die ohnehin nur wenige vollständig lesen [6]. Ergänzend: Sicherstellen, dass Leser finden, was sie brauchen [7].
– Technisch ist das Handbuch heute seltener etwas Gedrucktes aus einem Guss; Dokumente bilden sich eher aus vernetzten Schnipseln (Topics), die den Leser durch das Informationsnetz führen: kluge und schnelle Anleitung als Forderung an den Autor.
Minimalismus in diesem Verständnis ist immer auch der Mut zur Lücke. Eine Technische Dokumentation allein würde deswegen nicht ausreichen. Nötig ist eine Schichtung unterschiedlicher Dokumenttypen [8]. Diese leuchten dann jeden Winkel des Produkts aus und helfen Experten, wie zum Beispiel Systemverwaltern, Anwender zu unterstützen.
In diesem Verständnis ist die minimalistische Technische Dokumentation nicht automatisch preisgünstiger. Sie verlangt zunächst mehr Aufwand und Nachdenken. Geld kann sie vielleicht einspielen, wenn man Aktualisierungen, Übersetzungen und ihre Lebensdauer von Beginn an berücksichtigt.
Die neue Auflage
Seit etwa einem Jahr gehört der Minimalismus zur Norm IEC/IEEE 82079-1, „Erstellen von Nutzungsinformationen“, zunächst in der internationalen Fassung [9]. Darin wird von den Verantwortlichen für Technische Dokumentation eine neue Grundhaltung verlangt. Die Norm ordnet den Minimalismus neben Vollständigkeit und Richtigkeit der Informationsqualität als gleichwertig zu.
„Information quality“ (Informationsqualität, Abschnitt 5.3) macht stutzig. Die Leser dieser Zeitschrift wissen, dass man darunter viel verstehen kann. Diese zwei abstrakten Wörter bedeuten nichts und alles. Auf fast 2 Seiten liefert die neue Norm deswegen Entscheidungshilfen.
Damit der Begriff verstanden werden kann, bietet sie eine knappe Definition von Minimalismus: „principle that information for use includes critical information and the least amount of other information needed to be complete“[10]. Großzügig übersetzt enthält Nutzungsinformation bzw. Gebrauchsinformation alles Wichtige und sonst so wenig wie möglich.
Etwas später erklärt die Norm dessen Gegenteil, die exzessive Technische Dokumentation, die den Anwender mit Informationen überhäuft. Sie schließt den Gedanken: Minimalismus schafft einen Ausgleich zwischen den Kosten für Entwicklung und Pflege von Gebrauchsinformationen einerseits und den Anforderungen der Leser andererseits. Diese wollen das Produkt sicher, wirksam und methodisch angemessen (effectively, efficiently) nutzen [11].
Korrekt, so viel wie nötig und nicht mehr – immer gemessen am Produkt, dem Ziel seiner Nutzung und den Gefahren, die dabei entstehen. Das lässt Raum für Interpretationen und scheint angemessen. Zu unterschiedlich sind Geräte, Software und Anwender.
Und doch etwas abgestanden
Versteht man Minimalismus als den Leitgedanken, nur das Nötige zu schreiben, finden wir ihn auch in althergebrachter Stilistik: eine Frage guten Stils im Sachtext. Es ist die Erinnerung daran, dass Autoren nicht geschwätzig texten sollen; eine klassische Stilistik belegt es: Johann C. Adelung (1732–1806). Bereits dieser Autor unterschied zwischen Präzision und Weitschweifigkeit. Als positiv beurteilte er nur die erste Eigenschaft [12].
Auch er hat das nicht erfunden, es war wohl für die meisten Rhetoriker und Stilisten selbstverständlich. Wenn wir also „Minimalismus“ durch „sprachliche und inhaltliche Präzision“ ersetzen, ist das alles nichts Neues mehr. Dafür mangelt es heute an Entscheidendem.
Die Lesekompetenz fehlt
Die neue Norm und die Literatur zum Minimalismus in der Technischen Dokumentation gehen von der fachlichen Kompetenz des Anwenders aus. Man spricht aber nicht über dessen Fähigkeit, mit Geschriebenem im Allgemeinen umzugehen. Zwar spendiert Auflage 2 der 82079-1 im 9. Kapitel Bedingungen für Leserlichkeit, Lesbarkeit und Verständlichkeit, sie bleibt aber beim Bekannten. Das reicht nicht.
Wir wissen heute, dass etwa die Hälfte der erwachsenen Deutschen keine besonders guten und geübten Leser sind [13]. Das unterscheidet sie deutlich von denen, die Bücher, Artikel und Aufsätze zum Thema „Minimalismus“ schreiben. Darin fordert man zwar, dass die Einheiten – Kapitel – kurz seien, auch sprachliche Vereinfachungen sind erwähnt. Die naheliegende Brücke zur Plain Language (einfache Sprache) mit dem umfangreichen Wissen dazu ist bestenfalls im Ansatz zu erkennen.
Wissen ist die Voraussetzung
Einfache Sprache ist nicht nur an Personen und deren Lesekompetenz gebunden. Auch Fachleute, die wenigstens eine Fachsprache beherrschen, verstehen einen Brief der Krankenkasse nicht oder nicht richtig. Deswegen sind sie dankbar, wenn dieses Schreiben auf einem niedrigen Niveau einfacher Sprache formuliert ist.
Ursache des Nicht-Verstehens sind schließlich außer zu geringer Lesekompetenz auch die mangelnde Vertrautheit mit einem Wissensgebiet. Verstehen setzt Sprachwissen und Weltwissen – oder Kenntnis eines Weltausschnitts – voraus. Die Sprache allein reicht nicht.
Die Auseinandersetzung um den Minimalismus wird hierzulande spätestens dann aufflammen, wenn die IEC/IEEE 82079-1 bei uns auf Deutsch erscheint. Sie könnte leicht den Blick auf das Wesentliche verstellen, die Frage nämlich, wie wir als Autoren die Leser einschätzen: Was wollen oder müssen sie wissen, was kennen sie schon?
Lesekompetenz und Fachwissen bestimmen in erster Linie, wie eine verständliche einfache Sprache aussehen muss. Ob man über ein Produkt schreibt, für Wissenschaftler eines anderen Fachgebietes oder den Fragebogen des Bürgeramtes formuliert, ist dann unerheblich. Es geht nur um den verständlichen Ausdruck, der so viele Leser – niemals: alle – erreicht wie möglich.
Einfache Sprache
Uns interessiert nur das geschriebene Deutsch, davon die Sachtexte (Abb. 02). Einige können in einer einfachen Sprache geschrieben werden, andere nicht.
Abb. 02 Einfache Sprache im Kontext. Quelle Andreas Baumert
Abbildung 02 zeigt meine Sicht, zu der es viele Alternativen gibt. Dabei wird häufig einfache Sprache als ein mehr oder weniger fester Block angesehen. Diese Auffassung teile ich nicht. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass jeder Sachtext in der fachexternen Kommunikation – mit sehr wenigen Ausnahmen – einfach geschrieben sein könnte. Man muss nur unterschiedliche Niveaus zubilligen. In der linken Spalte zeigt Abbildung 02 drei Niveaus einfacher Sprache: hoch, mittel und niedrig. Die Niveaus bestimmen Fach- und Sprachwissen der Leser, für die ein Text geschrieben ist: der legitimen Leser. In einfacher Sprache ist der legitime Leser entscheidend, andere mögliche Leser sind nachrangig. Die Lesefähigkeit wird immer auf das niedrigere Niveau übertragen, nicht aber auf das höhere.
Am unteren Rand der Abbildung sehen Sie die Leichte Sprache. Im Prinzip ist sie trotz aller Bedenken eine Untermenge einfacher Sprache. Das bedeutet: Man kann immer in einfacher Sprache ausdrücken, was Autoren in Leichter Sprache schreiben; der umgekehrte Weg wäre nur durch eine starke Aufblähung des Textes oder überhaupt nicht möglich.
Meine Einstufungen für Deutschlerner nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER) sind nicht wissenschaftlich begründet. Sie sind eher als Annahme zu verstehen, von A1–C2. Ab A2 wachsen die Lerner langsam in das Verständnis einfacher Texte hinein, die nicht nur als Unterrichtsmaterial gestaltet sind.
Die Niveaus des GER sind keineswegs die einfache Sprache, sondern Teilmengen von ihr. Die einfache Sprache gibt es ohnehin nicht, es sind immer nur Erscheinungsformen derselben Grundhaltung: Der legitime Leser bestimmt, wie der Text aussehen muss.
Nicht dazu gehören fachinterne Texte (rechte Spalte). Sie sind nur für Experten einfach zu verstehen, nicht aber für Laien. Die Ausbildung eines Experten lehrt die Beherrschung seiner Fachsprache. Auf eigene Art ist Fachinternes auch minimalistisch, weil es meist Überflüssiges meidet – zumindest in Naturwissenschaft und Technik.
Die kursiv gedruckten Gebiete in der rechten Spalte stehen für Äußerungsformen, die einfach gestaltet sein könnten, es aber oft nicht sind. Diplomatische, religiöse und andere Verhaltensnormen stehen dem entgegen. Gelegentlich sorgen Eigenschaften einer Persönlichkeit oder deren mangelndes Können für die unverständliche Ausdrucksweise.
Verständliches Texten ist keine Geheimwissenschaft. Zur einfachen Sprache gehört, dass der Autor sich auf das Nötige beschränkt; sie hat schon deswegen viele Erscheinungsformen. Wer jedoch unbedingt einen neuen „Ismus“ braucht, dem werden Carroll und andere helfen können. 
Links und Literatur zum Beitrag
[1] Harsdörffer, Georg Philipp (1650): Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst/ohne Behuf der Lateinischen Sprache/ in VI. Stunden einzugiessen. 2. Aufl. 3 Bände. Nürnberg: Endter. Online unter
http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/harsdoerffer_trichter01_1650.
[2] Hess, Peter (1986): Poetik ohne Trichter. Harsdörffers „Dicht- und Reimkunst“, 1984. Stuttgart: Heinz, S. 38. Auf der gleichen Seite der Hinweis auf das Verkaufsargument.
[3] Mehr in Hess, S. 55. Harsdörffer spricht im 3. Band vom törichten Angehörigen des Pöbels, S. 379: „thörige Pövel Mann“.
[4] Carroll, John Millar (1990): The Nurnberg funnel. Designing minimalist instruction for practical computer skill. Cambridge, MA: MIT Press, S. 10.
[5] Carroll, John Millar (Hg.) (1998): Minimalism beyond the Nurnberg funnel. Society for Technical Communication. Cambridge, MA: MIT Press.
[6] van der Meij, Hans; Carroll, John Millar (1998): Principles and Heuristics for Designing Minimalist Instruction. In: Carroll, Minimalism beyond the Nurnberg funnel, S. 19–53.
[7] Hackos, JoAnn T. (2012): Minimalism Updated 2012. Article Reprint 2014. Hg. v. The Center for Information-Development Management. Denver, CO.
[8] Farkas, David K. (1998): Layering as a Safety Net for Minimalist Documentation. In: Carroll, Minimalism beyond the Nurnberg funnel, S. 247–274.
[9] IEC/IEEE 82079-1, 2019-05: Preparation of information for use (instructions for use) of products – Part 1: Principles and general requirements.
[10] IEC/IEEE 82079, S. 17.
[11] IEC/IEEE 82079, S. 21.
[12] Adelung, Johann Christoph (1800): Ueber den Deutschen Styl. 2 Bde., Bd. 1, S. 167–184, Berlin: Vossische Buchhandlung.
[13] Baumert, Andreas (2018): Einfache Sprache. Verständliche Texte schreiben. Unter Mitarbeit von Annette Verhein-Jarren. Münster: Spaß am Lesen, S. 2 und Baumert, Andreas (2020): Einfach schreiben. In: technische kommunikation, H. 1, S. 35–39, S. 37.