Eine Norm mit Grundsätzen

Text: Roland Schmeling

Das Konzept der Norm IEC/IEEE 82079-1 trennt zwischen Grundsätzen und Anforderungen. Für die Technische Redaktion wird vieles einfacher. Vorausgesetzt, sie setzt sich mit den Grundsätzen auseinander, etwa damit, dass die Anleitung zum Produkt gehört.

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 14:42 Minuten

Zielgruppenorientierung, Aufgabenangemessenheit, Minimalismus oder Relevanz: Ausgebildete Fachleute für Technische Kommunikation können zu jedem dieser Begriffe und den dahinterliegenden Prinzipien leicht eine Menge konkreter Regeln ableiten. Das zeichnet Profis aus. Aber ich zögere mit einer Antwort, werden mir Fragen wie diese gestellt: „Herr Schmeling, ich habe gehört, dass nach Norm jetzt Handlungsschritte nummeriert werden müssen, und die Schrift mindestens 10 Punkt groß sein soll. Ist das richtig?“

Gewiss, laut Abschnitt 8.3.4.3 der IEC/IEEE 82079-1 müssen Handlungsschritte nummeriert werden. Und nach der Tabelle für die Schriftgrößen im Abschnitt 9.10.1, die allerdings den Status einer Empfehlung hat („Empfohlene Mindest-Schriftgrößen und Höhen der Sicherheitszeichen und grafischen Symbole“), soll Fließtext in „Handbüchern“ bei hohem Kontrast (dunkler Text auf hellem Hintergrund) mindestens 10 Punkt groß sein.

Aber: Gilt das auf jeden Fall? Was ist mit Handlungen, die nur einen Schritt haben? Ist ein „Erstens“ nicht verwirrend, wenn kein „Zweitens“ folgt? Ist „10 Punkt“ unabhängig von der gewählten Schriftart und vom Layout richtig?

Schnell wird klar, dass tragfähige konkrete Entscheidungen nicht nur anhand detaillierter Einzelanforderungen getroffen werden können. Vielmehr stehen die Entscheidungen im Kontext eines Gesamtkonzepts sowie auf der Basis von Fachwissen und grundlegenden Prinzipien. Hier liegt eine Stärke der internationalen Norm IEC/IEEE 82079-1 für Nutzungsinformationen, die ein eigenes Kapitel mit Grundsätzen zur Technischen Kommunikation hat.

Ein aussagekräftiger Titel

Schon der Titel der Norm verrät die Unterscheidung zwischen Grundsätzen und Anforderungen: „Erstellung von Nutzungsinformationen (Gebrauchsanleitungen) für Produkte – Teil 1: Grundsätze und allgemeine Anforderungen“. Einige Beispiele zeigt Tabelle 01.

Tabelle mit Beispielen aus der IEC/IEEE 82079-1.
Tab. 01 Quelle Roland Schmeling

Deutlich wird, dass der Unterschied zwischen Grundsatz und Anforderung die „Flughöhe“ ist, auf der Informationsqualität betrachtet wird: Anforderungen erscheinen stets im Licht der übergeordneten Grundsätze.

Es gibt einen weiteren Unterschied zwischen Grundsatz und Anforderung: Im Gegensatz zur Anforderung ist ein Grundsatz ein Instrument für die Erklärbarkeit der Technischen Kommunikation und damit für ihren Stellenwert.

Bevor wir uns einen Überblick über die Grundsätze der IEC/IEEE 82079-1 verschaffen, einige Sätze zur Entstehung und Struktur der Norm.

International anerkannt

Die IEC/IEEE 82079-1 gilt weltweit als die wichtigste Grundlage für Nutzungsinformationen. Sie geht auf die IEC 62079 zurück, die vor über 20 Jahren erstmals veröffentlicht wurde. Die heutige Fassung ist der erste Teil einer Normenreihe, in der in den nächsten Jahren weitere Normen erscheinen werden, die jeweils auf dem vorliegenden „Teil 1“ aufbauen.

Über zehn Jahre verantwortet die „Joint Working Group 16“ die Normenreihe, kurz „JWG 16“. Das Gremium besteht aktuell aus 23 Mitgliedern [1]. Davon stammen sieben aus Japan, je vier aus Deutschland und China, je zwei aus Großbritannien und Schweden und je ein Mitglied aus Finnland, Italien sowie den USA. Außerdem wird ein Mitglied von der internationalen Organisation ISO entsendet.

Das Wort „Joint“ steht am Anfang, weil das Technical Committee TC3 der IEC mit dem TC10 der ISO zusammenarbeitet. Außerdem existiert eine „Liaison C“ mit der IEEE, dem US-amerikanischen „Institute of Electrical and Electronics Engineers“. Die Verbindungen dokumentieren nicht zuletzt die große internationale Bedeutung der Norm. Allerdings darf niemand übersehen, dass die Norm nicht perfekt ist.

Die richtige Einstellung

„Normbefolgung vor irgendeiner selbstgestrickten Lösung – aber eigenes Nachdenken und Reflexion vor sturer Normbefolgung!“ Diesen Grundsatz betone ich immer wieder. Umso mehr, seit ich aus eigener Erfahrung weiß, dass Normen nicht immer die beste aller Lösungen aufzeigen. Oft sind sie Kompromisse oder enthalten sogar Ungereimtheiten. Das hat unterschiedliche Gründe, angefangen von den verschiedenen persönlichen Hintergründen der Mitglieder im Normungsgremium über die Schwierigkeiten einzelner Mitglieder, die erforderliche Zeit für die Normungsarbeit aufzubringen (nicht alle Hersteller sind bereit, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dafür freizustellen), bis hin zur Organisation der Normungsarbeit. Wohlwollend und dennoch kritisch auf die Norm zu blicken, ist darum ein wichtiger Erfolgsfaktor für den Umgang damit. Dieser Gedanke steht auch hinter diesem Artikel.

Die IEC/IEEE 82079-1 ist ein international akzeptiertes Fundament für die Technische Kommunikation, das Seinesgleichen sucht. Dies ist der Grund, weshalb es sich lohnt, sich mit der Norm zu beschäftigen.

Abbildung 01 zeigt eine Übersicht über die Struktur der Norm mit einer Empfehlung, wie die Norm gut zu lesen ist: Die Grundsätze stehen dabei über den Anforderungen und sind als Basis, Schiedsrichter und Interpretationsgrundlage einzuordnen. Alle Anforderungen müssen stets mit Blick auf die Grundsätze beachtet werden.

Reihenfolge der IEC/IEEE 82079-1.

Abb. 01 Empfehlung für eine Reihenfolge, die IEC/IEEE 82079-1 zu lesen. Quelle Roland Schmeling

Die Grundsätze im Überblick

Die JWG 16 hat mit der Edition 2 die Grundsätze der Norm umfassend überarbeitet. Dies war auch nötig. Denn das Kapitel „Grundsätze“ hatte es zwar schon in der ersten Fassung von 2001 (damals noch IEC 62079) gegeben. Allerdings war eine Trennung zwischen Grundsätzen und detaillierten Anforderungen damals kaum erkennbar. Die Vermischung von Prinzipien mit detaillierten Anforderungen erschwerte das Verständnis der Norm und führte zu zahlreichen Redundanzen.

In der aktuellen Version lassen sich die Grundsätze in drei Bereiche aufteilen:

  • 1. Grundsätze zum Zweck der Nutzungsinformationen
  • 2. Grundsätze der Informationsqualität
  • 3. Grundsätze des Informationsmanagementprozesses

Abbildung 02 zeigt die Grundsätze im Überblick.

Grundsätze in einer Übersicht zusammengestellt.
Abb. 02 Die Grundsätze der IEC/IEEE 82079-1. Quelle Roland Schmeling

Das Besondere der Grundlagen

Im Protokoll der JWG 16 vom Mai 2015 wurde festgelegt, was die Grundsätze (im englischen Original „principles“) leisten sollen:

  • fachlich belastbar, breit anwendbar, zielkongruent und akzeptiert sein;
  • Komplexität reduzieren und den Fokus auf die wesentlichen Erfolgsfaktoren legen;
  • kurz, prägnant, selbsterklärend und einprägsam sein;
  • in einem übersichtlichen System von Grundsätzen angeordnet und darin möglichst gut abgegrenzt sein.

Ob die Grundsätze den im Protokoll der JWG 16 festgelegten Kriterien gerecht werden, soll der Diskurs mit der Fachwelt entscheiden. Die Norm hat jedenfalls „Luft nach oben“; so sollten für die kommende Weiterentwicklung der Norm die prozessbezogenen Grundsätze überarbeitet werden und die digitale Transformation mehr Berücksichtigung finden. Bis zur „Edition 3“ der Norm wird es aber noch ein paar Jahre dauern.

Grundsätze als „Schiedsrichter“

Ein wesentlicher Nutzen der Grundsätze ergibt sich für die Interpretation der Anforderungen. Ein Beispiel: Abschnitt 8.3.4 fordert für Schritt-für-Schritt-Anleitungen zwingend „einleitende Informationen“, einschließlich eines kurzen Überblicks über den Zweck der Vorgehensweise. Man könnte meinen, dass Schritt-für-Schritt-Anleitungen zwingend mit einer Einleitung beginnen müssen, selbst wenn eine Einleitung keinen Mehrwert für die Zielgruppe hat. Eine Einleitung aus formalen Gründen zu erfinden, widerspräche aber dem Minimalismus-Grundsatz der Norm. Daraus können wir folgern: Die Norm verlangt keine unnötige Einleitung, und Abschnitt 8.3.4 sollte auf keinen Fall in dieser Weise missverstanden werden.

Damit vermitteln die Grundsätze die Transparenz, mit der die knapp 300 einzelnen Anforderungen betrachtet werden müssen: Die Grundsätze stehen über den Anforderungen.

Rolle für die Technische Kommunikation

Die Auseinandersetzung mit den einzelnen Anforderungen kann dazu führen, sich im Klein-Klein zu verlieren. Etwa wenn sich eine Person mit einzelnen Vorgaben befasst und diese aus dem Zusammenhang reißt, zum Beispiel Schriftgröße, Formulierungsmuster, Symbole oder Layout – wie in unserer Frage am Anfang. Ein klarer Blick auf die Zusammenhänge und auf das große Ganze kann auf diese Weise nicht entstehen.

Auch eine erfolgreiche Kommunikation mit der Forschung und ihren Erkenntnissen ist anhand des Detaillierungsgrads einzelner Anforderungen schwer möglich. Zwar kann die Forschung Symbole auf ihre Verständlichkeit hin testen oder die Grenzen der Lesbarkeit von Schriftgrößen unter bestimmten Bedingungen untersuchen. Ein Rahmen für ein Forschungsprogramm wird damit jedoch nicht gesteckt, und der Beitrag, den der Diskurs in der Normung für die Formulierung von Forschungsfragen leisten kann, bleibt bruchstückhaft.

Doch gerade das Erkennen der Gesamtzusammenhänge und die Einbindung der Wissenschaft sind für die Veränderungen in der digitalen Transformation entscheidend, um der Technischen Kommunikation als ernstzunehmender Disziplin eine Stimme zu geben: Dort, wo Anleitungen nicht mehr als klassische Dokumente benötigt werden und sich Nutzungsinformationen über verschiedene Kanäle und Medien verteilen, werden zahlreiche und gut begründete Entscheidungen gefordert. Beispielsweise dazu, wie textliche Anleitungen, Videos und AR-Informationen verzahnt werden müssen, oder wie künftig Texte zu gestalten sind, so dass sie medienübergreifend wiederverwendbar sind – sofern möglich. Darum muss sich eine Technische Kommunikation mit ihren Grundlagen auseinandersetzen.

Der Vorrang der Grundsätze gegenüber den einzelnen Anforderungen entspricht genau dem Gedanken einer prinzipiengeleiteten Technischen Kommunikation. Oder anders gesagt einer wissenschaftlichen Technischen Kommunikation, kurz „Witeko“, ohne die sich der Stellenwert der Technischen Kommunikation nicht entwickeln lässt [2].

Dieses Ziel wird zunehmend greifbarer: Der Anteil gut ausgebildeter Fachleute für Technische Kommunikation und Informationsentwicklung wächst, wie Umfragezahlen der tekom belegen [3]. Die Branche hat mit über 95.000 Technischen Redakteurinnen und Redakteuren in Industrie, Mittelstand und Dienstleistung inzwischen mit dem Journalismus gleichgezogen [4].

Nicht zuletzt steht die Technische Kommunikation auch vor der Aufgabe, Externen das Fachgebiet zu erklären. Dies ist nicht möglich mit hunderten einzelnen Regeln – mit vereinfachenden Prinzipien und Grundsätzen hingegen schon.

Das Konzept ausprobieren

Nehmen wir an, ein Unternehmen kommt auf die Idee, in seiner Technischen Dokumentation die Schriftgröße zu verringern, um Druckkosten zu sparen.

Die Argumentation ohne Rückgriff auf die Grundsätze sähe so aus: Anleitungen sollen nach IEC/IEEE 82079-1 mindestens 10 Punkt Schriftgröße haben. Dagegen lässt sich einwenden, dass die IEC/IEEE 82079-1 keine zwingende Verbindlichkeit entfaltet. Mit dieser Frage steht und fällt die Argumentation.

Die Argumentation nach den Grundsätzen sähe so aus: Anleitungen können nur genutzt werden und damit ihre rechtliche Wirkung erst entfalten, wenn sie verständlich sind. Der Grundsatz der Verständlichkeit setzt bei Text wiederum die Lesbarkeit voraus. Der internationale Standard IEC/IEEE 82079-1 empfiehlt für gefaltete Instruktionsblätter mindestens 9 Punkt Schriftgröße. Auch wenn diese Norm nicht zwingend anzuwenden ist, stellt sie einen internationalen Konsens dar, auf den sich Kunden, Experten, Juristen oder Behörden beziehen können. Wenn wir diesen Konsens ignorieren, sollten wir gute Gründe dafür haben.

Einfluss auf die Unternehmenspolitik

Grundsätze sind ein Mittel der Vereinfachung und damit der Erklärbarkeit. Sie unterstützen die Argumentationsfähigkeit und tragen dazu bei, den Stellenwert der Technischen Kommunikation im Unternehmen zu erhöhen.

Optimalerweise findet in den Unternehmen eine Diskussion über die Grundsätze statt: Auf welche Formulierungen von Grundsätzen können Sie sich im Unternehmen verständigen? Die Grundsätze der Norm können Basis und Hilfestellung sein, unternehmensspezifische Grundsätze für Nutzungsinformationen festzulegen und in der Qualitätsdokumentation des Unternehmens auch festzuschreiben – als ein Element der Qualitätspolitik des Unternehmens. Dies ist die Basis für alle nachfolgenden Entscheidungen.

Die Materie erschließen

Die Grundsätze zu reflektieren, ist die Aufgabe dieses Beitrags und weiterer in den nächsten Ausgaben. Folgende Leitfragen helfen bei der Reflexion:

  • 1. Wie lässt sich der Grundsatz verstehen, für sich und im Zusammenspiel mit den übrigen Grundsätzen?
  • 2. Welche Anforderungen der IEC/IEEE 82079-1 konkretisieren den Grundsatz? Was lässt sich darüber hinaus aus dem Grundsatz ableiten?
  • 3. Inwieweit erfüllt der Grundsatz die gesetzten Qualitätskriterien? Welche Erfahrungen, theoretischen Ansätze oder Forschungen stützen den Grundsatz oder stellen ihn in Frage?
  • 4. Wie sollten der Grundsatz und die zugehörigen Anforderungen als auch das System der Grundsätze weiterentwickelt werden?

Der erste Grundsatz

An dieser Stelle beginnen wir mit der Reflexion der Grundsätze. Der erste, dem wir uns widmen: „Die Nutzungsinformationen sind Teil des Produkts (Abschnitt 5.2.2)“. Er lautet: „Die Nutzungsinformation ist ein integraler Bestandteil des unterstützten Produkts und muss die gleiche Aufmerksamkeit und Bedeutung erhalten wie jeder andere Teil des Produkts. Wenn die Nutzungsinformation fehlerhaft ist (z. B. die Anforderungen nicht erfüllt), ist das gesamte Produkt fehlerhaft. Nutzungsinformationen müssen leicht und deutlich dem unterstützten Produkt zugeordnet werden können.“

Dass die Instruktion ein Teil des Produkts ist, wird seit geraumer Zeit gebetsmühlenartig betont. Die Ansichten darüber, was dieser Grundsatz bedeutet, können jedoch weit auseinandergehen:

  • Die Technische Redaktion leitet aus dem Grundsatz Wertschätzung und angemessene Priorisierung von Projekten wie Terminologie ab; das Management sieht in dem Grundsatz lediglich ein haftungsrechtliches Risiko, gegen das man sich versichern muss. Die haftungsmindernde Wirkung eines Terminologiemanagements etwa sei in dem Grundsatz nicht begründet.
  • Die Produktentwicklung beruft sich auf die Aussage der Anleitung als Teil des Produkts, um organisatorisch die Technische Redaktion als Teil der Konstruktion zu führen; Produkt­management und Marketing hingegen betonen, dass „Nutzungsinformationen“ weit über die reine Anleitung hinausgehen und dass diese nur mit einem Gesamtverständnis der Kundenperspektive anforderungs­gerecht entwickelt werden können – dies sei keine Kernkompetenz der Konstruktion.
  • Die Technische Redaktion erwartet als „Teil der Produktentwicklung“, dass sie Informationen über technische Neuerungen oder Veränderungen mit gleicher Sorgfalt erhält wie andere Abteilungen. Doch die Praxis sieht oft anders aus.

Dass in einem Unternehmen unterschiedliche Aussagen auf Basis desselben Grundsatzes getroffen werden, hat also Konsequenzen, beispielsweise wenn die erforderlichen Budgets oder Projekte trotz Einigkeit in der Aussage nicht höher priorisiert werden oder wenn Informationen über „letzte Änderungen“ am Produkt bei einer Inbetriebnahme trotz Prozess und Bekenntnis nicht zuverlässig an die Technische Redaktion weitergegeben werden.

Umso wichtiger ist, im Unternehmen für eine gemeinsame Sicht auf die Grundsätze und ihre Bedeutung für die Entscheidungen im Unternehmen zu sorgen. Schauen wir uns also den Grundsatz genauer an.

Integraler Bestandteil

Der erste Teilsatz „Die Nutzungsinformation ist ein integraler Bestandteil des unterstützten Produkts“ ist eine Feststellung, die sich mindestens rechtlich leicht nachvollziehen lässt:

  • Vertragsrechtlich ist die Anleitung zumindest eine Nebenpflicht, die erfüllt werden muss, um den Vertrag, zum Beispiel einen Kaufvertrag, zu erfüllen.
  • Im Produktsicherheitsrecht schauen wir auf das europäische Maschinenrecht: Hier ist die Betriebsanleitung eine Schutzmaßnahme. Ohne diese Schutzmaßnahme ist die Maschine nicht verkehrsfähig.
  • Auch produkthaftungsrechtlich besteht kein Zweifel daran, dass Mängel an der Anleitung, die Instruktionsfehler, die Produkthaftung auslösen können.

Produkthaftungsrechtlich ist also das Produkt fehlerhaft, wenn die Nutzungsinformation fehlerhaft ist. Welche Anforderungen an die Nutzungsinformationen dabei genau verletzt sein müssen, um beispielsweise ein Produkt im Sinne des Produkthaftungsrechts fehlerhaft zu machen, ist wiederum eine Frage des Einzelfalls. Nach europäischem Recht sind dabei die berechtigten Sicherheitserwartungen von Personen das Maß der Dinge (85/374/EEC, Article 6). Konkrete Anforderungen der Norm mit Bezug zum Grundsatz dürften bei der Einschätzung, welche Erwartungen berechtigt sind, künftig eine Rolle spielen.

Aufmerksamkeit lenken

„Die Nutzungsinformation muss die gleiche Aufmerksamkeit und Bedeutung erhalten wie jeder andere Teil des Produkts“ – wirklich? „Produkt“ ist nach IEC/IEEE 82079-1, 3.28 ein „beabsichtigtes oder erreichtes Ergebnis einer Arbeit oder eines natürlichen oder künstlichen Vorgangs“ und schließt Waren und Systeme, aber auch Dienstleistungen und Informationen und alle Kombinationen daraus ein. Produkte bestehen potenziell aus

  • Hardware
  • Software
  • Information
  • Dienstleistung

Diese Teile des Produkts können wir uns als Kette vorstellen: Die Performanz und Sicherheit des Produkts werden durch das schwächste Glied bestimmt. Keinem dieser Teile kann man daher vorab einen Vorrang einräumen.

Betrachten wir ein konkretes Produkt, beispielsweise einen Personenkraftwagen: Das vorrangige Interesse gilt sicherlich der Hardware, dem Fahrzeug, mit dem ich von A nach B gelange – aber:

  • Ohne eine akribisch auf Vollständigkeit geprüfte Anleitung würde das Fahrzeug nicht zugelassen werden.
  • Auf eine Anleitung möchte auch niemand verzichten. So ist der Anteil an Menschen, die Anleitungen nicht nutzen gering: Nach älteren Befragungen liegt er bei drei bis vier Prozent. [5, 6] Die meisten Menschen waren schon auf Anleitungen angewiesen.
  • Im Haftungsfall kann schon eine einzige falsche Angabe in den Nutzungsinformationen, zum Beispiel über Verbrauch oder Abgaswerte, schwerwiegende Folgen haben. Kleine Ursache, große Wirkung.

Niemand wird verlangen, dass die Technische Redaktion eines Automobilherstellers über das gleiche Budget verfügt wie die Abteilungen, die die Hardware des Fahrzeugs entwickeln. Die Ressourcen einer Informationsentwicklung müssen jedoch angemessen sein: für Fachkräfte und Ausbildung, Prozessgestaltung, professionelle Werkzeuge, Zeit mit dem obersten Management zum „Gehört-werden“ sowie Entwicklungsbudgets für die Weiterentwicklung der Informationsprodukte und Methoden. Nicht zuletzt darf die Wertschätzung nicht fehlen, die sich in den Management-Entscheidungen dokumentiert.

Produkt verlagert den Fokus

Betrachten wir weitere Produkte: ein Online-Lexikon oder eine App mit Zusammenfassungen von Sachbüchern. Auf einmal dreht sich das Verhältnis zwischen dem Produkt „Software“ und dem Produkt „Information“ um. Hier vereinigen sich die meisten Ressourcen auf die Informationsentwicklerinnen und Informationsentwickler. Die Bedeutung der Nutzungsinformationen ist also eine Frage des Einzelfalls.

Die passende Leseweise des Grundsatzes ist daher: Kein Teil des Produkts darf von vornherein gegenüber der Nutzungsinformation bevorzugt werden. Mit dieser Offenheit obliegt es dem Produktentwicklungsprozess, der Informationsentwicklung den richtigen Stellenwert einzuräumen.

Verknüpfung hat Potenzial

„Nutzungsinformationen müssen leicht und deutlich dem unterstützten Produkt zugeordnet werden können.“ In diesem letzten Teil des Grundsatzes handelt es sich genau genommen bereits um eine Anforderung, die sich aus dem eigentlichen Grundsatz ableitet.

Wenn Nutzungsinformationen Teil des Produkts sind, sind Anspruchsteller – Zielgruppen, Juristen, Behörden, Käufer oder auch Verkäufer – darauf angewiesen, die Teile des Produkts einander eindeutig zuordnen zu können. Mit den digitalen und verteilten Informationsmedien wird dies zunehmend schwieriger.

Die IEC/IEEE 82079-1 konkretisiert die Anforderung an die Identifikation im Abschnitt 7.2 „Identifikationsmerkmale“, allerdings ohne auf die Verknüpfung zwischen Produkt und Information einzugehen. Solche Verknüpfungen können beispielsweise durch Etiketten (URL, QR-Code) oder elektronisch per Kabel oder Funktechnologien hergestellt werden. Außerdem durch Apps, die zum Produkt gehören.

Die genaue Formulierung von Anforderungen an die Verknüpfung zwischen Produkt und Information ist ein Entwicklungspotenzial der Norm. Bis es so weit ist, bleibt Normanwendenden die Argumentation mit Hilfe des Grundsatzes: Damit die Information als Teil des Produkts wahrgenommen und sicher genutzt werden kann, muss die Verbindung zwischen Produkt und Information beispielsweise eindeutig, klar, dauerhaft und einfach nutzbar sein.

Mit den Schwächen umgehen

Wie wichtig der „Teil-des-Produkts“- Grundsatz für die Weiterentwicklung der Norm ist, wird deutlich, wenn man die Prozessanforderungen der Norm im Kapitel 6 anschaut: Die Anforderungen dort bleiben derzeit noch hinter der möglichen Tragweite des Grundsatzes zurück.

Im Abschnitt 6.1 der Norm steht mehrfach, dass der Informationsmanagementprozess ein Unterstützungsprozess innerhalb des Lebenszyklus des unterstützten Produkts ist. Dies klingt nun weniger nach „Augenhöhe“ und steht in einem gewissen Widerspruch zum Grundsatz, dass die Information die gleiche Aufmerksamkeit erfordert wie das eigentliche Produkt.

Im Abschnitt 6.2.1 heißt es, dass die Geschäftsleitung die erforderlichen Ressourcen, Zeitpläne und Qualitätsziele vorgeben sollte. Leider sagt die Norm nichts über die Notwendigkeit aus, dass eine Geschäftsleitung dafür die Expertise und Beratung der Informationsentwicklung benötigt. Hier besteht Entwicklungspotenzial, damit konkrete Anforderungen besser im Einklang mit dem Grundsatz stehen. Bis dahin sollten Normanwendende die in der Norm noch fehlenden Aussagen aus dem Grundsatz ableiten:

  • Es sollte im Sinne des Grundsatzes genau geprüft werden, ob der Informationsmanagementprozess als Teil des wertschöpfenden Hauptgeschäftsprozesses sinnvoll integriert werden kann, anstatt als Unterstützungsprozess geführt zu werden.
  • Die Kompetenz liegt in der Technischen Redaktion. Weil die Nutzungsinformationen Teil des Produkts sind, müssen Entscheidungen, die sich auf die Nutzungsinformationen auswirken, mit derselben hohen Sorgfalt getroffen werden wie Entscheidungen über Hardware, Software oder auch den Service rund um das Produkt. Dies erfordert Fachkompetenz – schließlich ist die Technische Redaktion seit bald 30 Jahren ein Diplom- bzw. Master­studium. Um eine Geschäftsleitung bei der Erfüllung ihrer Sorgfaltspflichten zu unterstützen, muss die Redaktion eingehend beraten. Über die Köpfe der Redaktion hinweg Ressourcen, Zeitpläne und Qualitätsziele festzulegen wäre wohl eine Verletzung dieser Sorgfaltspflichten. Die Verantwortung für redaktionelle Entscheidungen, zum Beispiel über die Inhalte einer Anleitung, gehört also in die kompetente Redaktion.

Die Lehre aus dem Grundsatz

Mit dem ersten Grundsatz ist klargestellt: Die Technische Redaktion oder die Informationsentwicklung ist kein Schreibbüro, sondern bearbeitet in eigener Verantwortung einen wesentlichen Teil des Produkts. Sie benötigt Freiräume für die Entwicklung ihrer Produkte und Methoden und ist auf Fachkompetenzen angewiesen. Die Redaktion entscheidet aufgrund ihrer Kompetenz über Inhalt und Gestaltung der Informationsprodukte. Eine andere Interpretation lässt der Grundsatz kaum zu. 

Verbindlichkeit in der Norm

 
  • „Muss“ bedeutet: Wer die Normkonformität für sich in Anspruch nehmen will, muss diese Anforderungen umsetzen, so wie die Norm sie einfordert.
  • „Sollte“ bedeutet: Diese Anforderung umsetzen, es sei denn, gute Gründe sprechen dagegen. Diese Gründe sollten auf den Grundsätzen beruhen und schriftlich festgehalten werden, zum Beispiel im Redaktionsleitfaden. 
  • „Sollte soweit angemessen“ bedeutet: Diese Anforderung mit einem kritischen Blick aus Sicht der Grundsätze möglichst umsetzen.
  • „Muss, wenn anwendbar“ bedeutet: Wer die Normkonformität für sich in Anspruch nehmen will, muss diese Anforderungen immer dann umsetzen, wenn die Anwendung der Anforderung möglich ist. Die Anforderung, den Energieverbrauch im Betrieb anzugeben, ist beispielsweise nur für Produkte möglich, die auch einen entsprechenden Energieverbrauch haben.
 

Links und Literatur zum Beitrag

[1] IEC, „JWG 16 Convenor & Members,“ (27. 11. 2021): https://www.iec.ch/dyn/www/f?p=103:14:510948093055161::::FSP_ORG_ID,FSP_LANG_ID:10816,25.

[2] Schubert, Klaus (2011): Witeko. In: Schriften zur Technischen Kommunikation, Bd. 14. Technische Kommunikation im Jahr 2041“. S. 100–105.

[3] Straub, Daniela (2021): Branchenübergreifende Kennzahlen für die Technische Kommunikation 2021. tekom.

[4] Wikipedia (28. 11. 2021): https://de.wikipedia.org/wiki/Journalist 

[5] Schriver, Karen, A. (1996): Dynamics in Document Design: Creating Texts for Readers. S. 209–223.

[6] Jansen, Carolus/Balijon, Stephan (2002): How do people use instruction guides? Confirming and d isconfirming patterns of use. In: Document Design, S. 195–204.

Titel des Beitrags in Ausgabe 01 2022 der technischen kommunikation.