Den Kopf entwickeln

Text: Mathias Maul

Manchen Anforderungen sind unsere mental-emotionalen Tools nicht gewachsen. Mit einem Brain Dump schaffen Sie Klarheit und erste Lösungen.

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 03:13 Minuten

Entwirren und Neuordnen gehören zum Kern von Persönlichkeitsentwicklung und Coaching, Teamtraining und Therapie, Kommunikation mit Kunden, Mitarbeitern, Teams – und mit sich selbst. Diese Reihe befasst sich mit dem Aufräumen mentaler und emotionaler Prozesse. In dieser und den nächsten Ausgaben stelle ich je ein Tool vor, mit dem Sie sich auch ohne Vor- oder Ausbildung ein Stück selbst updaten können. In dieser Ausgabe ist es das Tool Brain Dump.

Wir können nur eine kleine Menge von Gedanken, Gefühlen, Ideen, Beziehungen zur selben Zeit im Bewusstsein halten. Unser Unbewusstes ist ein Autopilot, den wir über die Jahre konstruieren und verfeinern. Mit unbewussten mentalen und emotionalen Sortierprozessen helfen wir uns, auch bei hohen Anforderungen klar und fokussiert zu bleiben und uns zufrieden mit uns selbst und anderen zu fühlen. Umso größer sind der Stress und Schmerz, wenn die Anforderungen so zahlreich und unübersichtlich werden, dass selbst der innere Autopilot nicht mehr mitkommt.

Alles auf den Tisch

Ein Brain Dump ist ein mentales Tool, sein Innenleben zu betrachten, ohne zu werten, allein damit erste Veränderungsimpulse zu setzen und die Grundlage für weitere Interventionen zu schaffen. Der präventive Nutzen ist gering; setzen Sie es am besten dann ein, wenn innere Anspannung, Verwirrung, Orientierungslosigkeit, Wut, Frustration oder auch Verzweiflung bereits so groß sind, dass überhaupt nichts mehr zu gehen scheint.

Der Prozess ist einfach: Nehmen Sie ein Werkzeug ihrer Wahl – Zettel, Flipchart, Moderationskarten, Diagramm-Software – und notieren Sie alles, was sich in Ihrem Kopf abspielt, so gut Sie können. (Hilfreich ist oft, das gewohnte Werkzeug gerade nicht zu nutzen. Flipchart-Freaks empfehle ich A4 und 0,3-mm-Druckbleistift; Softwarenutzern den dicksten Filzstift und das größte verfügbare Papier.)

Es gibt kein „richtiges“ Format, und vorgegebene Strukturen (zum Beispiel Mind Maps) sind eher einschränkend als hilfreich. Meist ist es am besten, Stichwörter aufzuschreiben und (mit Linien) deren Relation darzustellen. Machen Sie zwischendurch eine Pause, wenn es zu intensiv wird. Bei besonders komplexen Innenleben ist es sehr hilfreich, mehrere Versionen zu schreiben: Die jeweils aktuelle ist die Vorlage für die neue. Werfen Sie danach die alten Versionen weg. Wichtig ist, dass eine Version wirklich „fertig“ ist, bevor Sie mit der nächsten starten. Und apropos fertig: Sie beschreiben kein transparentes technisches System, deshalb ist die Frage „wann bin ich fertig?“ nicht hilfreich. Sie sind fertig, wenn es sich für den Moment so anfühlt, als wäre das Gehirn ausgeschüttet.

Ihr Brain Dump darf übervollständig sein – oft tauchen Elemente auf, die im ersten Moment nicht wichtig scheinen. Schreiben Sie also lieber mehr als wenig auf und kommentieren oder bewerten Sie nicht, was erscheint. Auch geht es nicht darum, sich etwas „von der Seele zu schreiben“. Im Gegenteil: Ziel ist, das aktuelle Innenleben so zu erfassen, um mehr, nicht weniger Kontakt dazu zu bekommen.

Verändern durch Beobachten

Mit diesem Prozess konstruieren Sie eine von vielen möglichen Repräsentationen, die einen Teil Ihrer Gedanken und Gefühle abbildet. Das Ergebnis kann deshalb weder richtig noch falsch sein, denn wir haben es mit der Psyche mit einem dynamischen und vagen System zu tun, dem Konsistenz und Modularität fremd sind. Unterscheiden Sie besser zwischen nützlich und nicht nützlich statt zwischen richtig und falsch.

Das Nützliche dieses Prozesses: Veränderungsimpulse entstehen oft schon durch das Aufzeichnen und Beobachten, vor allem wenn man ein ansonsten verborgenes System von „außen“ anschaut. (Auch wenn Sie natürlich nie selbst ein komplett externer Beobachter Ihres Selbst sein können.)

Einfach experimentieren

Hängen Sie Ihr Ergebnis an die Kühlschranktür oder als Datei auf den Computer-Desktop, nehmen Ihre Reaktionen in den folgenden Tagen genau wahr und, wenn Sie Lust haben, protokollieren Sie diese direkt im Diagramm. Sollten Sie auch nach einigen Tagen überhaupt keine Veränderung wahrnehmen, hier zwei mögliche Interventionen:

  1. Wählen Sie das kleinstmögliche Element des Diagramms, das Sie direkt beeinflussen können. (Damit muss es etwas sein, das in Ihnen selbst geschieht, nicht in Anderen.) Drehen Sie an dieser „Schraube“ so wenig wie möglich, zum Beispiel mit einer sehr kleinen Verhaltensänderung.
  2. Vielleicht geht es aber um den Kunden, der endlich aufhören soll, Meetings zu sprengen? Dann zeichnen Sie das Diagramm neu mit dieser Änderung und fragen sich wieder nach der kleinstmöglichen eigenen Veränderung in Denken, Fühlen oder Verhalten, die vielleicht in Richtung des Zielsystems führt.

Beobachten und Experimentieren sind die besten (und einzig verlässlichen) Mittel im Werkzeugkasten von Coaches, Therapeuten und allen, die sich verändern möchten. Sie sind gerade durch einen der Coaching-Grundprozesse gegangen: Lege das Innere auf den Tisch, bestaune es und pack es wieder ein. Probieren Sie’s aus – viel Spaß und Erfolg.

Fachzeitschrift technische kommunikation Ausgabe 01 2022.