Der neue Stand der Technik

Text: Stephan Schneider Roland Schmeling

Mit völlig neuer Rezeptur erscheint die neue Edition der IEC 82079-1, an der auch Software- und Medizinproduktehersteller mitgewirkt haben. Schon jetzt zeigen wir die wesentlichen Neuerungen und Änderungen von Edition 2 und erklären die Unterschiede zur ISO 20607.

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 12:45 Minuten

Bereits die Erstausgabe der IEC 82079-1:2012 gilt als die anerkannt wichtigste Norm für Technische Kommunikation aller Produktbereiche. Sie stellt ein wichtiges und hilfreiches Arbeitsmittel dar. Inzwischen liegt eine neue Fassung der Norm vor, die vielen Erwartungen gerecht wird. Auch Hersteller von Maschinen sollten die IEC 82079-1 nutzen, zusammen mit der ISO 20607 über Betriebsanleitungen von Maschinen.

Edition 2 der IEC 82079-1 macht schon mit ihrem neuen Titel einen erweiterten Geltungsbereich deutlich. Wo bisher von „Gebrauchsanleitungen“ die Rede war, spricht die Norm von „Informationen zum Gebrauch“. Nicht nur Anleitungen werden von der Norm geregelt, sondern jegliche Informationen, die den Gebrauch von Produkten betreffen: Produktbeschreibungen, Beschriftungen, Texte und Meldungen einer Steuerungssoftware oder auch Kataloginformationen zur Auswahl eines Produkts. Außerdem gehören Nutzungsinformationen auf Internetseiten, in Apps, auf Videoplattformen und Lernplattformen oder integriert in der Softwareoberfläche des Produkts zum Geltungsbereich.

Erstmalig fordert eine Norm, dass Anleitungen, genauer gesagt alle Informationen zum Gebrauch, kurz sein müssen. Das Prinzip des Minimalismus ist als wichtige Anforderung künftig internationaler Konsens. Anleitungen mit überflüssigen oder zu ausführlich dargestellten Informationen sind nicht anforderungsgerecht und somit auch nicht normenkonform.

Weitere wichtige Neuerungen der Edition 2 betreffen die Anforderungen an den Prozess zur Entwicklung der Nutzungsinformationen. Sie sind nun in einem eigenen normativen Kapitel gebündelt, ebenso die Anforderungen an die Kompetenzen der Prozessbeteiligten.

Prinzipien der Norm

Die im Kapitel 5 beschriebenen Prinzipien zur qualitativ hochwertigen Entwicklung von Struktur, Inhalt und Layout der Nutzungsinformationen wurden grundlegend überarbeitet. Künftig werden die Prinzipien zum Zweck der Nutzungsinformation, zur Informationsqualität wie auch zum Prozess beschrieben (Abb. 01). Mit den neuen Prinzipien ergibt sich ein Qualitätsschema: Es eignet sich zur Definition unternehmensspezifischer Qualitätsziele und zur Führung, außerdem als Grundlage zur Entwicklung von Kennzahlen.

IEC 82079-1, Edition 2

Abb. 01 Die überarbeiteten Prinzipien der IEC 82079-1 Edition 2. Quelle Roland Schmeling und Stephan Schneider

Vorgaben für den Arbeitsablauf

Kapitel 6 der IEC 82079-1 zeichnet ausführlich den Informationsmanagementprozess einschließlich der Informationsentwicklung nach (Abb. 02) und hinterlegt ihn mit zahlreichen Anforderungen, zum Beispiel:

  • Geeignete Konzepte regeln die Gestaltung der Informationsprodukte, einschließlich Stil, Terminologie, Darstellung, Navigation und Verlinkung sowie Klassifikation der Informationen.
  • Die Konzeption baut auf Analysen von Märkten, Produkten, Zielgruppen, Informationsquellen, Produktrisiken und Rechtsanforderungen auf.
  • Empirische Tests werden genutzt, um Informationen anforderungsgerecht zu entwickeln, zum Beispiel Usability-Tests.
  • Informationsmanagement und Medienkonzept passen zu Lebenszyklus, Zielgruppen und Nutzungssituationen.
  • Das Projektmanagement berücksichtigt Qualitätssicherung, fachliche Reviews und Verbesserung anhand ermittelter Kundenzufriedenheit.
  • Personaleinsatz und Kompetenzen sind entsprechend den Anforderungen gemanagt.

Dabei bemessen sich die Prozessanforderungen an der erforderlichen Qualität der Informationen. Die Norm spricht dabei von „qualitativ hochwertigen Informationen“ (Abschnitt 6.2.1), wobei unter der Informationsqualität die Erfüllung der „Bedarfe des Nutzers“ (Abschnitt 5.3.1) zu verstehen ist.

IEC 82079-1, Edition 2

Abb. 02 Der Informationsmanagementprozess nach IEC 82079-1 Edition 2. Quelle Roland Schmeling und Stephan Schneider

Zielgruppenanalyse aus Softwarenorm

Eine wichtige Verbesserung in der Edition 2 sind die Erläuterungen zur Zielgruppenanalyse. Umfragen der Autoren zeigen, dass bislang kaum ein Unternehmen diese Grundlagenarbeit in einer geeigneten Form erledigt hat. Aber wie können Gebrauchsinformationen wirksam entwickelt werden, ohne die Eigenschaften der Zielgruppen zu kennen? Die künftige IEC 82079-1 hat einige Ansätze aus der Softwarenorm ISO IEC IEEE 26514 aufgegriffen und bietet mehr Hilfestellung bei der zwingend erforderlichen Zielgruppenanalyse.

Allgemeine Anforderungen

Die Anforderungen der IEC 82079-1 an den Inhalt von Nutzungsinformationen im Kapitel 7 sind jetzt thematisch deutlich besser gegliedert und umfangreich. Dennoch sind sie generisch genug, damit sie sich branchenübergreifend nutzen lassen – für Verbraucherprodukte genauso wie für Industrieprodukte und Produkte für den gewerblichen Einsatz. Unter „Produkte“ versteht die Norm auch Maschinen und Anlagen.

Natürlich können nicht alle inhaltlichen Anforderungen für alle Arten von Produkten durchgängig angewendet werden. Ein bestimmter Inhalt, der zwingend in eine Anleitung für ein Atemgerät gehört, ist für eine Software zur Textverarbeitung, eine Vakuumpumpe oder eine Transportdienstleistung möglicherweise wenig brauchbar. Daher bleibt die IEC 82079-1 mit ihren inhaltlichen Anforderungen an vielen Stellen allgemein oder nennt Vorschläge, über die eine Technische Redakteurin oder ein Technischer Redakteur letztlich entscheiden muss. Übrigens: Im Sinn der Norm gelten auch Dienstleistungen als Produkte. Viele Anforderungen der Edition 2 wurden aus der bisherigen Norm übernommen, einiges wurde auch geändert:

  • Die Anforderungen an die erforder­lichen Inhalte zu Zubehör, Verbrauchsmaterial und Ersatzteile wurden überarbeitet und detailliert.
  • Die inhaltlichen Anforderungen an grundlegende Sicherheitshinweise wurden überarbeitet und vervollständigt.
  • Ergänzend zu den Signalwörtern für Personenschäden werden in der neuen Version auch Signalwörter für Sachschäden vorgeschlagen.
  • Anforderungen an den Inhalt von Anleitungen für Produkte, die montiert werden müssen, sind ausgearbeitet.
  • Anforderungen an Inhalte zur Infor­mationssicherheit sind nun definiert.

Grundsätzlich gilt, dass der Inhalt den Anwender der Nutzungsinformation dazu befähigen muss, das Produkt sicher, effizient, effektiv und vollständig zu nutzen. Dies gilt für den gesamten Lebenszyklus des Produkts von der Lieferung und Lagerung bis hin zu Entsorgung oder Wiederverwertung. Die Verantwortung, die relevanten Informationen zu wählen, bleibt Aufgabe der Technischen Redakteure. Die Verantwortung kann und soll nicht auf die Norm abgewälzt werden, sondern stellt eine zentrale konzeptionelle Aufgabe dar.

Wesentliche Neuerungen

In den zwei Kapiteln 8 und 9 zu Struktur und Darstellung der Informationen enthält die IEC 82079-1 die meisten der bisherigen Anforderungen, jedoch mit zahlreichen Aktualisierungen und Änderungen. Die konzeptionell wichtigste Neuerung ist, dass zwischen der Erstellung und der Publikation von Informationen unterschieden wird. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Terminologie der Norm: Es wird nun von „information types“, „topics“ und „information products“ gesprochen. Weitere wichtige Neuerungen von Edition 2 sind:

  • Die Struktur von Anleitungen für Systeme und Anlagen wird ausführ­licher behandelt.
  • Die Strukturierung findet auf mehreren Ebenen statt, nämlich der Informationslandschaft („set of information products“), dem Informationsprodukt („information product“) und dem Informationstyp („information type“).
  • Strukturierungsprinzipien werden genannt, die spezifisch für bestimmte Informationstypen sind.
  • Wichtige Aspekte der Bereitstellung elektronischer Informationen wurden aufgenommen, zum Beispiel die Individualisierung von Informationen, Kontextsensitivität, Suche und Verlinkung, wenn auch nicht im Einzelnen ausgeführt.
  • Prinzipielle Anforderungen an Medien wie zum Beispiel Animation und Video wurden aufgenommen. Medien stehen gleichwertig neben­einander.
  • Die Empfehlungen für die Schriftgrößen wurden angepasst, so dass Warnhinweise in Anleitungen keine größere Schrift erfordern.

Bereits die erste Fassung der IEC 82079-1 enthielt Anforderungen an die berufliche Kompetenz, allerdings über die Norm verteilt und teilweise nur indirekt dargestellt. Nun gibt es ein eigenständiges Kapitel (Kapitel 10) mit normativen Anforderungen an die Kompetenzen der beteiligten Personen. Nach ausführlicher internationaler Diskussion wird die Grundaussage bestätigt, dass ein Informationsmanagementprozess mit Konzeption, Erstellung und Bereitstellung von Nutzungsinformationen die Aufgabe kompetenter Akteure ist.

Die Norm beschreibt unterschiedliche Leistungsniveaus, die von der sicheren Beherrschung des Arbeitsbereichs bis hin zu komplexen Managementaufgaben reichen. Natürlich werden auch für die Übersetzung von Nutzungsinformationen geeignete Fachleute gefordert. Dabei legt die Norm jedoch die Maßstäbe nicht absolut fest. Vielmehr muss ein Unternehmen die erforderlichen Niveaus anhand der Aufgaben definieren. Dies wird mit einer Liste der typischen Aufgaben einer Redaktion unterstützt.

Vorzüge und Herausforderungen

Die Norm ist einzigartig und in dieser Form konkurrenzlos. Sie liefert sowohl konkrete inhaltliche und gestalterische Anforderungen an Nutzungsinformationen als auch an den Informationsmanagementprozess.

Jedoch ist die Norm auch in der Anwendung komplex und setzt Kenntnisse über Technische Kommunikation voraus. Dies sehen wir jedoch nicht als Nachteil der Norm. Vielmehr ist es ein Ausdruck der zunehmenden Professionalisierung, den die Technische Kommunikation durchläuft – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit; in anderen Ländern allerdings mit spürbaren Unterschieden.

Die Zeiten scheinen endgültig vorbei, wo Personen lediglich mit ihrer Schulbildung Technische Dokumentation erstellen konnten. Deutlich macht dies das Kapitel über Kompetenzen: Die Kompetenzen müssen den Aufgaben entsprechen. Sicherlich eine der weitreichendesten Anforderungen für viele Unternehmen.

Wer ein Kochrezept für Anleitungen sucht, findet in der IEC 82079-1 viel über Prozesse, erforderliche Kompetenzen und Prinzipien. In der Norm steht aber fast nichts über Schreibregeln oder konkrete Gliederungsvorschläge. Da die IEC 82079-1 als Grundlagennorm zu verstehen ist, zählen Kochrezepte für Informationsstrukturen, Stile und Formulierungen nicht zu ihren Inhalten. Rezepte fallen vielmehr in den Aufgabenbereich der konzeptionellen und methodischen Entwicklung, die von der Norm eingefordert wird und die von kompetenten Technischen Redakteuren und Redakteurinnen geleistet werden muss.

Nutzen für Redaktionsleitung

Die in der IEC 82079-1 beschriebenen Prinzipien, die Anforderungen an den Informationsmanagementprozess und die beruflichen Kompetenzen, aber auch die Anforderungen an den Inhalt und die Gestaltung von Nutzungsinformationen bilden die Basis für die Entwicklung, Implementierung und Anwendung leistungsfähiger Redaktionsprozesse. Sie sind aber auch die Grundlage, um kompetente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen und zu qualifizieren sowie eine effiziente Organisationsstruktur aufzubauen.

Die IEC 82079-1 beschreibt klar, dass Technische Kommunikation und Übersetzung Managementaufgaben darstellen und eine Delegationsverantwortung der Unternehmensleitung besteht. Die Leitung ist verpflichtet, die erforderlichen Ressourcen mit den notwendigen Kompetenzen bereitzustellen und den Verantwortlichen für die Technische Kommunikation die Entwicklung der notwendigen Prozesse und Strukturen zu ermöglichen. Die entsprechenden Aussagen können als „Stand der Technik“ argumentativ im Unternehmen genutzt werden.

Umsetzung mit der Erfolgspyramide

Die Erfolgspyramide in Abbildung 3 zeigt die Aufgabenfelder eines Redaktionsmanagements. Mit der normativen Legitimation lässt sich diese Erfolgspyramide klarer beschreiben und umsetzen.

Strategische und operative Bedeutung

Abb. 03 Erfolgsfaktoren der Technischen Redaktion in Pyramidenform. Quelle Roland Schmeling und Stephan Schneider

Stellenwert im Unternehmen und strategische Entwicklung: Unternehmenserfolg bedeutet, dass qualitativ hochwertige Nutzungsinformationen die Haftungsrisiken des Produkts verringern und oft das Inverkehrbringen erst ermöglichen. Doch so manches Unternehmen ist weit entfernt, Nutzungsinformationen einen entsprechenden Stellenwert einzuräumen.

Die Norm fordert nun eindeutig eine organisatorische Strategie für die Entwicklung und Erhaltung der Nutzungsinformationen. Mit Verweis auf die Norm kann von einer Geschäftsleitung die Definition von Qualitätszielen, Ressourcen und Ablaufplänen eingefordert werden: Gemeinsam mit den Verantwortlichen für die Technische Kommunikation und derart, dass die geforderte Qualität der Nutzungsinformationen erreicht wird.

Edition 2 erklärt erstmals den Informationsentwicklungsprozess zur Chefsache und unterstützt damit entscheidend den Stellenwert der Informationsentwicklung im Unternehmen. Damit sind wichtige Argumente vorhanden, um die notwendigen Ressourcen und Budgets für Redaktionsleitfaden, Zielgruppenanalyse, Qualitätssicherung oder auch Usability-Tests einzufordern.

Prozesse: Verantwortliche für die Technische Kommunikation sollten die Weichenstellungen beeinflussen und darauf die strategische Ausrichtung der Redaktionen – zum Beispiel die Verantwortung für die neue Medien – und die Entwicklung entsprechender Informationsentwicklungsprozesse aufbauen. Neben dem Kernprozess der Technischen Redaktion als wertschöpfender Prozess (Anleitung ist Teil des Produkts) geht es dabei auch um unterstützende Prozesse, zum Beispiel für Terminologie, Archivierung oder Pflege des dokumentierten Standards.

Die beschriebenen und implementierten Prozesse sollten Teil der übergeordneten Unternehmensprozesse sein, beispielsweise Innovationsprozess, Markteinführungsprozess und Produktlebenszyklus-Management. So sind auch dauerhaft die Sichtbarkeit und damit ein entsprechender Stellenwert der Informationsentwicklung gewährleistet.

Organisationsentwicklung: Die Prozessbetrachtung – übergeordnete Prozesse und Schnittstellen zu anderen Prozessen – führen zur Organisationsstruktur der Technischen Redaktion. Es müssen geeignete Rollen definiert und Aufgaben beschrieben werden. Daraus lassen sich konkrete Stellenbeschreibungen ableiten. Die Norm orientiert sich dabei am Projektmanagement und liefert in Kapitel 10 klare Anhaltspunkte, welche Aufgaben welche Kompetenzen erfordern.

Schlagkräftiges Team: Ausdrücklich fordert die Norm im Rahmen des Projektmanagements ein „Ressourcenmanagement“ und ein „Management der Kommunikation innerhalb des Projektteams“ und zu weiteren Interessengruppen.

Die Beschreibung der Kompetenzen in Kapitel 10 ist Grundlage für die Rekrutierung und Weiterentwicklung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Methoden: Zur Erfüllung der Aufgaben in der Technischen Redaktion müssen die richtigen Methoden angewendet werden. Die Norm fordert zum Beispiel die Anwendung der folgenden Methoden und kann entsprechend zur Argumentation eingesetzt werden:

  • Zielgruppenanalyse durchführen
  • Redaktionsleitfaden erstellen und anwenden
  • Stilregeln und Corporate Language anwenden
  • Terminologiearbeit leisten
  • Single-Source-Publishing und Cross-Media-Publishing anwenden
  • Strukturierungsmethoden anwenden
  • Anleitungsprüfungen und empirische Tests durchführen

Mit zahlreichen konkreten Anforderungen trägt die Norm auch zur Entwicklung der Methoden bei, sei es mit einer Tabelle für Schriftgrößenempfehlungen, mit umfangreichen Angaben zu möglichen Inhalten einer Anleitung oder mit konkreten Anforderungen an die Gestaltung von Sicherheits- und Warnhinweisen. Aber auch dort, wo die Norm weitere Methoden nicht ausdrücklich fordert, zum Beispiel Audits, lassen sich diese mit den Prozessanforderungen gut begründen. Als mögliche Grundlage, um die Übereinstimmung mit der Norm zu belegen, werden Audits im Kapitel 4 und im Anhang A ausdrücklich als „Prozessbewertungen“ beschrieben.

Werkzeuge: Da zum Erreichen der Qualitätsziele der Norm geeignete redaktionelle Werkzeuge benötigt werden, nennt die Norm einzelne, zum Beispiel ein Redaktionssystem. Oder sie liefert Argumente für geeignete Werkzeuge, zum Beispiel für eine Terminologiedatenbank (konsistente Terminologie), für Illustrationswerkzeuge (verständliche Illustrationen) oder Groupware (Projektmanagement und Kooperation).

Strategisch und operativ

Ergänzend zum Informationsmanagement fordert die IEC 82079-1 ausdrücklich auch Projektmanagement und -leitung sowie Personalmanagement. Im Zusammenspiel mit den bisher beschriebenen Anforderungen der Norm hat die Forderung auch Einfluss auf das strategische und operative Management einer Technischen Redaktion.

Beim strategischen Management sind es vor allem diese Aspekte, die mit den normativen Anforderungen in Einklang gebracht werden müssen:

  • wirtschaftliche Situation
  • Marktsituation
  • Marktanforderungen
  • Globalisierung
  • sozio-kulturelle Veränderungen
  • rechtliche und normative Vorgaben
  • Chancen und Risiken neuer Technologien

Die Entwicklungen bei Industrie 4.0, digitaler Zwilling, Big Data, spezifische und situative Informationsentwicklung und intelligente Informationsverteilung belegen die Bedeutung der Technischen Kommunikation und den Bedarf, die Technische Kommunikation im Unternehmen strategisch zu entwickeln.

Auch wenn die Norm keine umfassenden Antworten gibt, so sind doch das Qualitätsgerüst, das Prozessmodell und die konkreten Anforderungen an die Umsetzung von Nutzungsinformationen wichtige Bausteine für den Umgang mit diesen Entwicklungen. Hier bieten sich für Technische Redaktionen neue Chancen. Schließlich können sie dank ihrer konzeptionellen und methodischen Stärken die Entwicklungen aktiv mitgestalten.

Das operative Management der Technischen Redaktion umfasst vor allem die Prozesse der Mitarbeiterführung, die finanzielle Führung der Technischen Redaktion und das Qualitätsmanagement. Ebenfalls Teil des operativen Managements ist die Zusammenarbeit mit Dienstleistern und Partnern. Bei der Zusammenarbeit mit Dienstleistern hilft die IEC 82079-1, die Prinzipien und Qualitätsansprüche als Erwartungen an die Dienstleister und die Regeln für die Zusammenarbeit klar zu beschreiben.

Besonderheit im Maschinenbau

Technische Redaktionen im Maschinenbau müssen sich künftig auf eine neue Situation einstellen: Neben der IEC 82079-1 als Grundlagennorm für Anleitungen und der ISO 12100 Abschnitt 6.4 mit Anforderungen an Betriebsanleitungen für Maschinen ist zukünftig auch die ISO 20607 zu beachten. Sie fasst die Anforderungen an Betriebsanleitungen aus der ISO 12100 konkreter und bezieht sich informativ auch auf die IEC 82079-1. Tabelle 1 zeigt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von IEC 82079-1 und ISO 20607.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Überblick

Tab. 01 Quelle Roland Schmeling und Stephan Schneider

Prinzipien: Während die IEC 82079-1 in Edition 2 mit einer ausgereiften Beschreibung der Prinzipien aufwartet, steckt die ISO 20607 hier noch in den Kinderschuhen. Die Ausrichtung eines Qualitätssystems für Anleitungen sollte sich daher vorrangig an der IEC 82079-1 orientieren.

Prozessanforderungen: Die IEC 82079-1 erscheint in Edition 2 mit einem eigenen normativen Kapitel zum Informationsentwicklungsprozess, ergänzt um Anforderungen an Kompetenzen. Die ISO 20607 formuliert keine Anforderungen an den Erstellungsprozess. Das verwundert, heißt es doch in der zugrunde gelegten Sicherheitsgrundnorm ISO 12100 gleich zu Beginn von Abschnitt 6.4: „Das Abfassen der Benutzer­information ist ein integraler Bestandteil der Konstruktion einer Maschine […]“. Es fehlt auch weiterhin eine ausführliche Antwort auf die Frage, was das Normungsgremium unter einem „integralen Bestandteil“ versteht und was dies für den Informationsentwicklungsprozess und das Verhältnis zwischen Konstrukteur und Technischem Redakteur bedeutet. Bei allen Anforderungen an den Prozess bleibt die IEC 82079-1 daher die maßgebliche Norm.

Inhalt einer Betriebsanleitung: Die ISO 20607 verfolgt den Ansatz, mit ihrer Beschränkung auf Maschinen besonders konkret zu sein. Sie stößt allerdings angesichts der Bandbreite möglicher Maschinen auch an Grenzen und verlangt wie die IEC 82079-1 die Berücksichtigung des Informationsbedarfs der Zielgruppen („information needs“). Teilweise ist die ISO 20607 konkreter als die IEC 82079-1. So wird im Normenentwurf ein einfaches unverbindliches Modell aus vier Zielgruppen genannt: installer, operator, technician und dismantling personnel. Beide Normen suggerieren einen Aufbau von Anleitungen, der sich am Produktlebenszyklus orientiert. Doch gibt es auch in der IEC 82079-1 Anforderungen an den Inhalt, die in der ISO 20607 nicht vorkommen. Beispiele dafür sind Textvorschläge zur Wichtigkeit von Anleitungen, Angaben zur Sicherheit in Kurzanleitungen oder Details zu Ersatzteilen, Verbrauchsmitteln und Zubehör. Für eine normgerechte inhaltliche Gestaltung von Betriebsanleitungen sollten demnach beide Normen herangezogen werden, wobei aus maschinenrechtlicher Sicht aufgrund der Konformitätsvermutung der ISO 20607 eine besondere Bedeutung zukommt.

Gestaltung von Anleitungen: Die ISO 20607 bietet unter „Prinzipien“ eine Klassifikation der Sicherheits- und Warnhinweise, die sich bis hin zur Terminologie stark an die US-Norm ANSI Z535.6 anlehnt. Auch die IEC 82079-1 ist auf Konsistenz mit der ANSI Z535.6 angelegt. Dadurch sollte auf diesem wichtigen Themenfeld die parallele Anwendung der Normen nicht nur möglich, sondern mit sich ergänzenden Anforderungen auch nützlich sein. Hinsichtlich der Signalwörter bleibt die ISO 20607 hinter der IEC 82079-1 zurück. Beide Normen verweisen auf die ISO 3864-2 für Warnschilder.

Konzeptionell hat die künftige IEC 82079-1 einen erheblichen Vorsprung mit neuen normativen Kapiteln zu Strukturierung und Medienwahl. Die ISO 20607 hingegen punktet mit zwei Seiten pragmatischer Hilfestellungen zur Formulierung. Allerdings bleiben die Hilfestellungen im Vergleich zu denen im tekom-Leitfaden „Regelbasiertes Schreiben“ hinter dem Stand der Technik zurück.

Die Schriftgrößentabelle der ISO 20607 ist der aktuellen IEC 82079-1 entnommen, kopiert mit Angabe der Quelle. Keine glückliche Entscheidung, denn dadurch können Abweichungen zwischen den Normen entstehen. Führende Quelle für Schriftgrößen bleibt die IEC 82079-1.

Doppelbelastung für Redaktionen

Während die ISO 20607 eine pragmatische Konkretisierung von Anforderungen darstellt, die auch ohne größere Kenntnisse im Bereich Technische Kommunikation verstanden werden kann, stellt die Anwendung der IEC 82079-1 eine Redaktion vor Themen, die deutlich weiter zielen und einen umfassenden und nachhaltigen Nutzen für die Technische Kommunikation eines Unternehmens bieten. Der ISO 20607 geht es um die Mindestanforderungen für eine rechtskonforme und sicherheitsgerechte Betriebsanleitung für eine Maschine. Es handelt sich um einen wichtigen Aspekt. Die Norm gibt aber keine erschöpfende Antwort auf drängende Fragen zur Weiterentwicklung einer Technischen Redaktion im Maschinenbau.

Offensichtlich ist, dass sich die beiden Normen ergänzen und teilweise überlappen. Ob daraus Widersprüche oder auch Spannungen resultieren, bleibt abzuwarten. Denn Stand August 2018 sind die beiden Normen nicht endgültig veröffentlicht.

Der neue Stand der Technik