Verstehen, was Sache ist

Text: Christopher Rechtien

„Endlich Feedback!“ denkt sich der eine oder andere, wenn die Technische Dokumentation in einer digitalen Form bereitsteht und es damit möglich wird, mehr über die Nutzer und ihr Verhalten zu erfahren. Aber wie kann das genau aussehen und wer profitiert am Ende davon?

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 08:52 Minuten

Digitale Bereitstellungskanäle für Service- und Anwenderinformationen ebnen den Weg für ein direktes Feedback der Zielgruppe. Entweder durch Kommentare oder Bewertungen am Inhalt selbst oder indirekt durch Nutzerdaten, die automatisch gesammelt werden. Werkzeuge wie Content-Delivery-Plattformen oder Sprachassistenten können solche Daten sammeln. Was sind das aber genau für Daten und wie leitet man daraus Konsequenzen ab?

Vernunft statt Sammelwut

Ein Unternehmen wie Google beobachtet, liest mit und hört manchmal sogar zu. Google weiß, wo ich wohne und wo ich arbeite. Es weiß, wann ich welche Route zwischen diesen beiden Orten bewältige und welches Verkehrsmittel ich bevorzuge. Das Unternehmen versteht, wonach ich suche und somit auch, welche Produkte in meinem Leben nicht wie erwartet funktionieren oder was ich daran besser mache würde. Viele Hersteller wissen das eher selten. Noch seltener dürften Unternehmen aus dem Business-to-Business-Bereich wie Maschinen- und Anlagenbauer an solche Daten kommen. Lässt sich das ändern?

Spricht man von Nutzerdaten, ist es nicht das Ziel, diese Daten maß- und ziellos zu sammeln. Steht man vor dieser Aufgabe, lässt sich vielmehr von Unternehmen lernen, die den Endkunden im Blick haben. Bei diesen Unternehmen sind die Benutzer der Produkte gleichzeitig die Kunden. Entsprechend akribisch werden Daten gesammelt und ausgewertet. Daraus lassen sich Maßnahmen für Marketing sowie Usability- oder Produktentwicklung ableiten. Kunden sollen so gefunden, gehalten und die Geschäftsbeziehung zu ihnen am besten ausgebaut werden.

Über Webseiten, Apps oder auch Transaktionen sammeln diese Unternehmen unterschiedliche Nutzerdaten: Name, Alter, Geschlecht, Wohnort, Kaufverhalten (etwa aus Warenkörben oder Wunschlisten), Trackingdaten (zum Beispiel navigierend auf der Webseite, in der App oder sogar geografisch, Klicks, Sitzungslänge). Die Daten sind teilweise in einem Grad an Detaillierung, der beeindruckend ist. Manchen Unternehmen gelingt es, dank der Nutzerdaten die Customer Journey nahezu durchgängig nachzubilden: Wann und wie oft informierte sich Kundin oder Kunde über das Produkt? Welche Features scheinen sie oder ihn besonders zu interessieren? Wann wurde gekauft? Wie wird die App/Software/das Produkt seither genutzt? Welche Optionen/In-App-Käufe könnten für die Kunden interessant sein? Zumindest lassen sich so die Nutzerdaten für eine Kundensegmentierung verwenden. Letztlich sind wir alle fast jeden Tag Teil solcher Datenerhebungen. Häufig zu unserem Vorteil, denn die Angebote passen sich immer besser unseren Anforderungen an. Aber was hat das genau mit Technischer Kommunikation zu tun?

Die klaren Vorteile

Wird die Technische Dokumentation nur gedruckt bereitgestellt und bleibt das auch absehbar so, dann kann die Technische Redaktion damit keine Potenziale an Nutzerdaten ausschöpfen. Steht die Technische Dokumentation digital bereit, können die Nutzerdaten aus den Anwender- und Serviceinformation auch im „Business-to-Business“-Kontext verwertet werden. In welchen Bereichen die Nutzerdaten Technischer Dokumentation am meisten Potenzial entfalten und wo sie das direkt oder eher indirekt tun, zeigt die Pyramide in Abbildung 01.

Potenzialpyramide für die Verwendung von Nutzerdaten.

Abb. 01 Potenzial-Pyramide für die Verwendung von Nutzerdaten aus Service- und Anwenderinformationen. Quelle Christopher Rechtien

Das zweifellos größte Potenzial bieten Nutzerdaten dann, wenn sich die Anwender- und Serviceinformation an die Bedürfnisse der Zielgruppen genauer anpassen lassen. Denn es gibt diverse Möglichkeiten, den Zielgruppen die Informationen auch digital bereitzustellen und damit die ermittelten Nutzerdaten auszuwerten. Die folgenden Fragen könnte man anhand der Nutzerdaten etwa beantworten:

  • Welche Informationen werden von welchen Anwendergruppen am häufigsten gesucht?
  • Welche Informationen werden zwar gesucht, sind aber (noch) nicht vorhanden?
  • Wonach wird nicht gesucht?
  • Welche Art Feedback hinterlassen Anwender?
  • Wie lange werden welche Inhalte gelesen?
  • Wohin navigieren die Anwender?
  • Was kommentieren die Anwender?
  • Wie bewerten die Anwender einzelne Dokumente/Kapitel/Topics?
  • Wann werden welche Abzweigungen während der Störungssuche in einem Fehlerbaum genommen?

Die Hersteller von Content-Delivery-Portalen bilden mehrheitlich noch nicht alle diese Funktionen vollständig ab. Zum Teil zeigen sie aber ambitionierte Planungen, um künftig Nutzerdaten auszulesen und die Customer Journey auch anhand der Technischen Dokumentation nachzuzeichnen. Wie kommen Unternehmen in die Lage, Nutzerdaten mit ihren Service- und Anwenderinformationen zu sammeln, und was machen sie damit, wenn sie die Daten gesammelt haben? Das Ganze passiert in drei Schritten:

  1. Zielgruppen analysieren,
  2. Systemanforderungen definieren und
  3. Adaptionsprozess ausarbeiten.

Schritt 1: Zielgruppen

Die Technische Kommunikation richtet sich an den Bedürfnissen der Zielgruppe aus. Entsprechend macht auch sie hier den Anfang: Welche gibt es? Wie sieht ihre Anwendungssituation am Produkt aus? Welche Informationen benötigt eine Zielgruppe? Wie müssen wir also die Technische Dokumentation erstellen, um der Anwendungssituation und dem Informationsbedürfnis gerecht zu werden? Diese Fragen ausreichend zu beantworten, ist alles andere als trivial. Schließlich sind sie das Fundament für den Erfolg eines jeden Projektes in der Technischen Kommunikation.

Neben der Zielgruppenanalyse samt Befragung oder Interviews und beispielsweise ergänzt um die Persona-Methode sollte auch die Anwendungssituation mit dem Produkt und der Dokumentation analysiert werden. Dazu eignen sich Methoden wie die Customer Journey oder der Service-Blueprint, die mit erfahrenen Moderatoren für die einzelnen Zielgruppen erarbeitet werden. Schon hier sollten unterschiedliche Stakeholder im Unternehmen eingebunden werden. So dürften sich für den Umgang der Zielgruppen mit dem Produkt auch das Marketing, die Produktentwicklung oder der Service interessieren.

Mit den Erkenntnissen der Zielgruppenanalyse und der Customer Journey sollte sich klären lassen, wo ein digitaler Informationskanal Vorteile bietet. Die Anforderungen der Zielgruppe aufzunehmen, deren Use Cases zu studieren und passend dazu passende Informationskanäle zu definieren, ist aufwändig und geradezu dafür prädestiniert, in einem Design-Thinking-Workshop erarbeitet zu werden [1, 2].

Schritt 2: Systemanforderungen

Ist die Wahl auf eine der vielfältigen Möglichkeiten gefallen, Service- und Anwenderinformationen digital bereitzustellen, müssen Unternehmen verschiedene Anforderungen für eine Systemauswahl festlegen. Welche Funktionen sind obligatorisch und welche optional? Wie fügt sich das System in die geplante Gesamtlandschaft ein? Wie sieht die zukünftige Erstellungs- und Publikationsstrecke aus? Welche Anforderungen bestehen bei der Umsetzung des gewünschten Metadatenkonzeptes? Diese Fragen stehen beispielhaft für weitere, die sich aus dem jeweiligen Unternehmenszusammenhang ergeben.

Die vielschichtige Frage lautet: Was möchten wir über die Zielgruppe der Service- und Anwenderinformationen lernen? Aus der Antwort darauf entstehen konkretere Detailfragen, wie ich sie bereits beispielhaft aufgezählt habe. Die Antworten auf die Detailfragen liefern die Nutzerdaten, die am Ende die Vorgaben für die Systemauswahl machen.

Auch wenn sich vor der Einführung wahrscheinlich nicht genau sagen lässt, wie aussagekräftig die Nutzerdaten am Ende tatsächlich sein werden, können schon Argumente berücksichtigt werden. So spielt etwa der Produkt-, alternativ der Inhaltslebenszyklus, die Produkt-, alternativ die Produktvariantenvielfalt oder auch die Granularität der Informationseinheiten eine Rolle bei der Entscheidungsfindung. Der spätere Adaptionsprozess entscheidet ebenfalls: Soll keine Interaktion mit Feedbackgebern oder Adaption ihrer Kommentare erfolgen, ist eine explizite Feedbackfunktion im Sinne von Kommentaren nicht unbedingt erforderlich. Um diese Punkte ausreichend zu berücksichtigen, gehören sämtliche Stake­holder einbezogen. Denn in den Nutzerdaten steckt mehr Potenzial, als lediglich die Service- und Anwenderinformationen zu verbessern, wie wir später noch sehen werden (Abb. 02).

Auch technische Aspekte spielen eine Rolle. Auch dazu eine Auswahl an Fragen: Lässt sich einstellen, inwieweit Klicks und Bewertungen auch künftige Suchergebnisse beeinflussen sollen? Sollen oft gelesene oder gut bewertete Inhalte bei der Suche höher priorisiert oder sogar direkt als erste Suchergebnisse angezeigt werden? Wie sehr das System in die bestehende bzw. geplante Systemlandschaft eingebunden werden soll, wäre ein weiterer Punkt für die Anforderungsliste: Soll der schriftliche Kommentar eines Nutzers direkt für alle anderen Nutzer sichtbar sein? Soll der Kommentar via E-Mail oder Ticket-System an einen zuständigen Mitarbeiter übermittelt werden? Entscheidend ist hier, wie der Adaptionsprozess im Unternehmen (Use Case) aussehen soll, das die Nutzerdaten erheben möchte.

Übersicht über ein Content-Delivery-Portal.

Abb. 02 Einfaches Beispiel für Nutzerdaten in einem Content-Delivery-Portal (Demodaten). Quelle Christopher Rechtien

Schritt 3: Adaptionsprozess

Im nächsten Schritt wird festgelegt, was mit den Daten der Nutzer passiert. Da sich der zweite und der dritte Schritt thematisch gegenseitig beeinflussen, sollte sie nahezu parallel stattfinden. Im dritten Schritt kann nun das Vorgehen entwickelt werden, wie die künftigen Nutzerdaten gesammelt, ausgewertet und die gewonnenen Erkenntnisse berücksichtigt werden. Je nach Nutzerzahlen können hierbei Verfahren der Data Science angewandt werden. Fokussiert sich ein Unternehmen auf den Bereich Service- und Anwenderinformationen, dann geht es eher um qualitative Analysen der Nutzerdaten. Ein einfacher, aber praxisnaher Adaptionsprozess könnte etwa so aussehen:

In der regelmäßigen Redaktionskonferenz werden die gesammelten Nutzerdaten präsentiert und gemeinsam interpretiert. Abhängig von den Erkenntnissen werden Maßnahmen festgehalten.

Oft gesuchte, aber nicht vorhandene Inhalte sowie über Kommentare kritisierte Inhalte werden zur Überarbeitung eingeplant und die korrigierten Inhalte mit der nächsten Revision veröffentlicht. Nicht hilfreiche oder irrelevante Inhalte werden überarbeitet oder entfernt.

Erkenntnisse, die für andere Stakeholder im Unternehmen relevant sein könnten, werden aufbereitet und kommuniziert – mehr hierzu in den nächsten Absätzen.

Der Adaptionsprozess kann beliebig komplex werden, und das Beispiel stellt nur eine einfachste denkbare Form dar. Alleine beim Lesen des Beispiels werden Ihnen sicher viele weitere Aspekte einfallen, die Sie in Ihrem Unternehmen berücksichtigen sollten. Ein solches Vorgehen wird am besten in einem Prozessworkshop mit allen Stake­holdern definiert und während der Anwendung immer weiter verfeinert.

Das haben andere davon

Vertrieb und Marketing können aus den Nutzerdaten ebenfalls Vorteile ziehen. Im B2B-Bereich wird viel Aufwand betrieben, um so genannte Entscheider kennenzulernen, die Beziehungen zu pflegen und auszubauen. Dank der Daten der tatsächlichen Nutzer sowie der Servicetechniker erfahren Vertrieb und Marketing unverfälscht, welche Funktionen und Themen am meisten interessieren und wirklich genutzt werden.

In der Kundenakquise lassen sich die entscheidenden Funktionen maßgeschneidert adressieren. Sicher sind Anwender und Servicetechniker nicht die eigentlichen Kaufentscheider im B2B-Bereich – aber sie haben natürlich Einfluss auf die Entscheider. Beim Kauf berücksichtigen Entscheider sicherlich, wenn Maschinen eines Herstellers durch hohe Wartungsaufwände, eine komplizierte Bedienung oder durch mangelhafte Troubleshooting-Dokumentation aufgefallen sind. Die Nutzerdaten der Anwender- und Servicedokumentation können möglicherweise die einzigen Informationsquellen sein, die im B2B-Bereich nach der Kaufabwicklung genutzt werden können.

Ein Schritt zu Neuem

Unternehmensbereiche wie das Innovationsmanagement oder die Produktentwicklung sind immer akribisch auf der Suche nach Verbesserungspotenzialen, Kunden- und Anwenderwünschen oder Markttrends. Mit den Nutzerdaten der Anwender- und Servicedokumentation können diese direkt an das Herstellerunternehmen getriggert werden. Aus den Kommentaren oder den Suchanfragen lässt sich in manchen Fällen gleich erkennen, welche Funktionen Anwender oder Servicetechniker vermissen, welche technischen Änderungen oder Weiterentwicklungen sie sich wünschen oder was ihnen bei ihrer Arbeit Probleme bereitet. Eine ausreichende Datenmenge vorausgesetzt, können diese Reaktionen für Produktenwicklung und Konstruktion wertvolle Ansatzpunkte sein.

Für Service und Produktentwicklung, aber auch für die Technische Redaktion gewinnen Systeme an Interesse, die geführte Fehlerbehebungen ermöglichen. Das Vorgehen einer Person an einem Fehlerbaum, welche Abzweigungen sie dort nimmt und an welcher Stelle ein Fehler identifiziert und gelöst wurde, ermöglicht es, den Fehlerbaum selbst zu optimieren. So könnte die häufigste Fehlerursache etwa am Anfang der Fehleranalyse erscheinen und damit die Fehlersuche künftig verkürzen. Auch könnte man erkennen, welche Fehleranalysen nicht zum Ziel führen oder welche Komponenten des Produkts unverhältnismäßig oft von Fehlfunktionen oder außerplanmäßigem Verschleiß betroffen sind. Dies wären wiederum Anhaltspunkte für die Produktentwicklung oder die Konstruktion.

Wahrscheinlichkeiten erkennen

Eine passende Sensorik und eine signifikante Anzahl an Anwendern vorausgesetzt, sind auch Predictive Analytics denkbar. Anhand historischer Daten wird eine Vorhersage für zukünftige Aktionen erstellt. Die Methode stammt aus dem Bereich Data Science.

Mit Hilfe der Nutzerdaten könnte man folgenden Überlegungen nachgehen:

  • Welche ungeplanten Auswirkungen haben die beschriebenen Handlungs­anweisungen?
  • Lässt sich sogar feststellen, was missverständlich ist, weil Handlungen am Produkt nicht so durchgeführt werden, wie vom Hersteller geplant?
  • Gibt es eine Relation zwischen der Suche nach bestimmten Inhalten wie Handlungsanweisungen und dem vorzeitigen Verschleiß einzelner Komponenten?

Ob gerade die eben genannten Überlegungen in der Praxis umsetzbar sind, muss sich für jedes Unternehmen individuell zeigen. Allerdings lassen sich die Mehrwerte von Daten erst dann ermitteln, wenn sie erhoben worden sind. Dass hier Potenzial vorhanden ist, zeigt die steigende Erhebung von Nutzerdaten in sämtlichen Ausprägungsformen. Sie ist häufig in der Industrie anzutreffen, wenn es um das Industrial Internet of Things geht, kurz „IIoT“.

Wie die Potenzial-Pyramide in Abbildung 01 für die Verwendung von Nutzerdaten aus Service- und Anwenderinformationen zeigt, entstehen für die Technische Kommunikation neue Einsatzfelder und letztlich Argumente, um das Erheben von Nutzerdaten voranzubringen. Daraus ergeben sich Mehrwerte, die man im Unternehmen adressieren kann, mit denen sich gegen Datensilos argumentieren lässt und die helfen, den Stellenwert der Technischen Redaktion zu erhöhen. Letztlich werden die Produkte und ihre Technische Dokumentation besser und sorgen damit für zufriedenere Kunden und Anwender.

Beitrag in der Rubrik Informationsmanagement Ausgabe 04 2021.nt,