Zu Besuch in der virtuellen Werkstatt

Text: Jens Elsebach Patrick Spieler

Wie wird ein Servicetechniker in Zukunft lernen, ein Nutzfahrzeug zu warten und zu reparieren? Etwa mithilfe virtueller Realität, die etablierte Schulungsmethoden ergänzen kann. Es eröffnet sich eine vielversprechende Methode, die nicht nur auf Fahrzeuge begrenzt ist.

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 08:38 Minuten

Auch die Hersteller von Nutzfahrzeugen haben einen exzellenten Service als Wettbewerbsvorteil erkannt. Komplexität und Spezifizierung der Fahrzeuge und ihrer verbauten Komponenten erfordern allerdings effizientere Serviceschulungen. Da physische Schulungsobjekte nur mit hohem Aufwand in Schulungscentern zum Lernen und Üben zur Verfügung gestellt werden können, geht auch hier der Trend zur Digitalisierung.

Die Virtual Reality (VR)-Technologie ist ein vielversprechender Ansatz, um Aus- und Weiterbildungsmethoden für praxisorientierte Lerninhalte zu verbessern. Ein umfassender Einsatz in praxisorientierten Schulungen kann die Lernzeit von Schulungsinhalten verkürzen, die Qualität der Aus- und Weiterbildung erhöhen und Kosten reduzieren. In der Praxis wird das Training mit VR recht selten eingesetzt, so dass diese Form des Trainings einen gewissen Exotenstatus hat und das Potenzial dieser Technologie bislang nicht ausgeschöpft ist.

In einer Masterarbeit im Rahmen eines mehrsemestrigen Studienprojekts an der Technischen Hochschule Aschaffenburg wurde auf Basis eines Serviceschulungsszenarios in der Nutzfahrzeugbranche eine VR-Schulungsapplikation entwickelt. Ziel dieses Studienprojekts war es, durch die Entwicklung und Evaluierung einer interaktiven VR-Trainingsanwendung einen Beitrag zu leisten, um diese neue interaktive Schulungsform in der betrieblichen Praxis zu etablieren.

In diesem Studienprojekt wurde ein VR-Trainingssystem für Schulungen im LKW-Service konzipiert, entwickelt und umgesetzt. Es handelt sich um den Demontageprozess einer Bremsscheibe und einer Radnabe einer LKW-Anhängerachse. Mit Hilfe eines Head-Mounted-Displays soll durch vollständiges Eintauchen und realistische Interaktionen in der digitalen Umgebung ein immersives Lernerlebnis vermittelt werden. Eine abschließenden Probandenstudie sollte klären, ob sich die entwickelte VR-Schulungsapplikation für den Praxiseinsatz eignet und die genannten Mehrwerte tatsächlich eintreten.

Wie wird bisher trainiert?

Die VR-Anwendung ist angelehnt an ein Training zur Demontage der Bremsscheibe und Radnabe einer LKW-Anhängerachse. Die korrekte Demontage mit den einzelnen Arbeitsschritten ist vor allem für Anfänger und Mechaniker ohne praktische Vorkenntnisse keine einfache Aufgabe, da die Einbauorte der einzelnen Komponenten der Bremsscheibe nicht vollständig zu erkennen sind. Um die Arbeitsschritte bei Reparatur- oder Wartungsarbeiten korrekt durchführen zu können, werden sie aktuell in der praktischen Schulung durch das Konzept des Job-Instruction-Trainings erlernt und trainiert (Inf. 01). Mit der VR-Technologie wurde ein Konzept entwickelt, das auf dem Ansatz des Trainings basiert. Das Lernziel ist die Vermittlung von Wissen über die Einbauorte der einzelnen Komponenten, über die Auswahl geeigneter Werkzeuge für den jeweiligen Arbeitsschritt und über den korrekten Ausbau der einzelnen Komponenten in der richtigen Reihenfolge.

Job-Instruction-Training

Beim Job-Instruction-Training (JIT) werden die Teilnehmer Schritt für Schritt von einem Instruktor angeleitet, wie die Arbeitsprozesse korrekt und sicher durchgeführt werden. [1] Das JIT beginnt mit der theoretischen Einführung. Danach demonstriert der Ausbilder den Teilnehmern die Arbeitsprozesse, und im Anschluss daran werden unter Anleitung und Unterstützung des Instruktors die Arbeitsschritte und -methoden gelernt und geübt, gefolgt von einer Feedback- und Diskussionsrunde zu den theoretischen und praktischen Elementen der Unterweisung. [2] Das Ziel dieses Trainings ist es, den Teilnehmern beizubringen, die erlernten Kenntnisse und Fähigkeiten in realen Situationen anzuwenden.

Inf. 01

Nach dem realen Servicetrainingsszenario besteht die potenzielle Nutzergruppe der zu entwickelnden VR-Schulungsanwendung aus Mitarbeitern und Monteuren von Servicewerkstätten und Mitarbeitern technischer Kundendienste. Durch ihre täglichen Aufgaben beherrscht die Nutzergruppe die Aus-, Um- und Nachrüstung von Kraftfahrzeugen, die Wartung und Reparatur von Kraftfahrzeugen und Fahrzeugteilen sowie die Erläuterung von Kundenfragen zum Fahrzeug. Die Grundlage für ihre Aufgaben und Tätigkeiten sind handwerkliches und technisches Fachwissen. Die Nutzer erwarten daher eine virtuelle Arbeitsumgebung, die dem Umfeld eines Lehrgangs in einem Schulungscenter entspricht.

Mit der interaktiven VR-Schulungsanwendung können die Teilnehmer den kompletten Arbeitsablauf zum Ausbau der Bremsscheibe und der Radnabe einer Trailerachse erlernen, indem sie über das Head-Mounted-Display in eine virtuelle Umgebung eintauchen. Die Schulungsanwendung soll Mitarbeiter und Monteure dabei unterstützen, den kompletten Demontagevorgang effektiv, effizient und zufriedenstellend zu erlernen und zu üben.

Die VR-Schulungsapplikation soll das praktische Training am realen Schulungsobjekt nicht ersetzen. Vielmehr soll sie das Training unterstützen, um den gesamten Schulungsablauf effizienter zu gestalten. Konkret bedeutet das, ungewollte Pausen oder Leerlaufzeiten können mit der VR-Trainingsapplikation vermieden werden. Die Teilnehmer lernen durch Selbsttraining die Anhängerachse in einer virtuellen Umgebung kennen, können die zu trainierenden Schritte zur Demontage von Bremsscheibe und Radnabe selbstständig erlernen und verkürzen so die Einarbeitungs- und Trainingszeit an der realen Anhängerachse. Wie der komplette schematische Kursablauf mit einer VR-Schulung aussehen kann, zeigt Abbildung 01.

Mit und ohne virtuelle Realität.

Abb. 01 Vergleich eines Lehrgangs ohne und mit virtueller Realität. Quelle Patrick Spieler und Jens Elsebach

Wie funktioniert die Anwendung?

Die Entwicklung der VR-Anwendung folgt dem Vorgehen von VARyFAST [3] sowie den Aspekten der menschzentrierten Gestaltung nach DIN ISO EN 9241-210. Das Prozessmodell nach VARyFAST beschreibt die einzelnen Schritte, die bei der Entwicklung von Augmented- und Virtual-Reality-Anwendungen zu beachten sind (Abb. 02).

Übersicht bis zur fertigen VR-Anwendung.

Abb. 02 Entwicklungsprozess von VR-Anwendungen nach VARyFAST. Quelle Patrick Spieler und Jens Elsebach

Das Ergebnis von Konzeption und Entwicklung ist eine gebrauchsfertige VR-Schulungsanwendung für die Demontage der Bremsscheibe und Radnabe einer LKW-Anhängerachse. Die digitale 3D-Umgebung, in der sich der Anwender während der virtuellen Schulungssitzung schließlich wiederfindet, ist einem Schulungs- oder Arbeitsraum nachempfunden (Abb. 03).

Arbeitsraum mit der LKW-Achse.

Abb. 03 Digitaler Arbeitsraum für die Schulung an der Trailerachse. Quelle Patrick Spieler und Jens Elsebach

In der virtuellen Schulungsapplikation können die Arbeitsschritte zur Demontage der Bremsscheibe und der Radnabe erlernt, verstanden und geübt werden. Um die Abläufe möglichst realitätsnah abzubilden, wurden auch die dazugehörigen Werkzeuge in die Anwendung aufgenommen (Abb. 04).

Virtuelles Modell der Werkzeuge.

Abb. 04 3D-Modelle der zu verwendenden Werkzeuge. Quelle Patrick Spieler und Jens Elsebach

Die Geh- und Handbewegungen in der VR-Anwendung werden mit einem immersiven Headset und einem entsprechenden Handcontroller ausgeführt. Die eingebauten Sensoren im VR-Equipment erfassen die Geh- und Handbewegungen. Die Steuerung der VR-Anwendung ist recht eindeutig. Das Ändern der Blickrichtung funktioniert durch Kopfbewegung/Körperdrehung des Headsets. Das Greifen und Loslassen von Objekten erfolgt über die Greiftasten der Controller, die Bedienung der virtuellen Benutzeroberfläche über einen Laserpointer aus der rechten virtuellen Hand. Der Laserpointer wird angezeigt, sobald ein Menü erscheint. Die Bedienung der Benutzeroberfläche erfolgt über die Tasten der Controller, die mit den Daumen betätigt werden können. Abbildung 05 zeigt, wie die virtuellen Handgriffe aussehen.

Bedienung der Montage mit einem Controller.

Abb. 05 Einzelne Arbeitsschritte in der virtuellen Umgebung; der Nutzer bekommt ganz neue Einblicke. Quelle Patrick Spieler und Jens Elsebach

Die VR-Anwendung ist mit Ereignissteuerungen ausgelegt. Die Steuerungen sorgen dafür, dass die virtuelle Schulung dynamisch und ohne Unterbrechungen abläuft. Der Nutzer muss keine zusätzlichen Interaktionen durchführen, um mit den Arbeitsaufgaben fortzufahren. Eine Ereignissteuerung wird etwa dann ausgelöst, wenn der Anwender den einzelnen Arbeitsschritt erfolgreich beendet hat. Dazu muss ein Bauteil eine Lichtschranke passieren, um ein Ereignis bzw. eine Folgefunktion zu aktivieren (Abb. 06). Die Arbeitsanweisung und die farbliche Hervorhebung des beendeten Arbeitsschrittes werden ausgeblendet und die Hilfestellungen für den nächsten Arbeitsschritt eingeblendet.

Darstellung der Ereignissteuerung.

Abb. 06 Ereignisauslöser in der interaktiven Anwendung. Quelle Patrick Spieler und Jens Elsebach

Ein weiteres Merkmal der interaktiven Schulungsanwendung ist, dass kein Zeitlimit für das Lernen und Üben der Schritte in der virtuellen Umgebung besteht. Die Entscheidung liegt ganz beim Anwender, wie viel Zeit für das Erlernen der Abläufe und Handgriffe erforderlich ist. Darüber hinaus ist die interaktive VR-Trainingsanwendung so konzipiert, dass der Anwender die Arbeitsabläufe in der virtuellen Umgebung ausprobieren kann. Selbst wenn der Lernprozess zu Beginn nicht reibungslos verlaufen ist, kann er die Schulungssitzung jederzeit wiederholen und neu starten.

Die interaktive VR-Trainingsanwendung ist in zwei Szenen unterteilt. Für die Entwicklung von VR-Anwendungen bedeutet der Begriff Szene eine Art Level/Ebene, in der sich der Nutzer im VR-System befindet. Szenen können unterschiedliche Umgebungen, Elemente und Aufgaben enthalten [4]. In der ersten Szene liegt der Fokus darauf, dass der Lernende zunächst die Achse, die einzelnen Komponenten und die Werkzeuge in der virtuellen Umgebung kennenlernt. Weiterhin, dass er die Arbeitsschritte mit visuellen Hilfestellungen versteht – Abbildung 07 und Abbildung 08. Außerdem leuchten für die jeweiligen Arbeitsschritte die relevanten Bauteile farblich auf. Damit wird der Benutzer darauf hingewiesen, dass er diese Bauteile nun demontieren muss.

Anweisung zum Lösen des Bremszylinders.

Abb. 07 Darstellung einer Arbeitsanweisung im Sichtfeld des Nutzers. Quelle Patrick Spieler und Jens Elsebach

Virtueller Blick auf die Achse und auf die Orientierungspfeile.

Abb. 08 Eingeblendete Richtungspfeile erleichtern, Bauteile aufzufinden. Quelle Patrick Spieler und Jens Elsebach

In der zweiten Szene wiederum geht es in Form von „Lernerfolgskontrolle“ um die Umsetzung des Gelernten. In dieser Szene überprüft der Anwender, ob er die Arbeitsschritte tatsächlich gelernt und verstanden hat und ob er die Bremsscheibe und die Radnabe mit den richtigen Werkzeugen und in der richtigen Reihenfolge der Arbeitsschritte ohne externe Hilfe erfolgreich von der Achse demontieren kann.

Wie kommt die Schulung an?

Zum Abschluss des Masterprojekts testete ein Praxispartner die VR-Schulung. Das Ergebnis ist eine nicht repräsentative Probandenstudie. Grundsätzlich zeigen die Evaluationsergebnisse, dass die VR-Technologie für die Schulung von Servicetechnikern und Kundenbetreuern geeignet ist und Aspekte aus der Serviceschulung am realen Trainingsobjekt gezielt vermittelt werden können. Das zu diesem Zweck importierte digitale Modell der Achse ist hinreichend nah an der Realität.

Die Probanden absolvierten das virtuelle Training mit Engagement und konnten sich die zu erlernenden Arbeitsschritte mit Hilfe der interaktiven VR-Schulung gut einprägen. Verbesserungspotenzial sahen die Probanden in den nicht realitätsnah dargestellten Dreh- und Schraubvorgängen am virtuellen Schulungsobjekt. Zudem traten bei einigen Probanden leichte Augenbeschwerden sowie Unwohlsein auf. Weitere Praxisstudien sind nötig.

Welche Szenarien sind sonst denkbar?

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Arbeitsprozesse in der Nutzfahrzeugbranche in einer VR-Anwendung abgebildet und auch von Menschen in einer virtuellen Umgebung realitätsgetreu nachsimuliert werden können.

Die Entwicklung der VR-Technologie konzentrierte sich bisher auf eine höhere Auflösung und bessere Wahrnehmung. Inzwischen legen die Entwickler nicht nur Wert auf die Auflösung, sondern auch auf das „reale Erlebnis“ und „realistische Interaktionen“. Dazu gehört der Einsatz von taktilen und haptischen Endgeräten. Sie geben dem Nutzer ein durchgängiges Feedback und können zudem das interaktive und immersive Erlebnis durch zusätzliche Elemente wie das Berühren und das physische Gewicht von virtuellen Objekten durch Force-Feedback intensivieren [5]. Diese Weiterentwicklungen sind für die Unternehmen und ihre Schulungsbereiche vielversprechend, insbesondere für die Vermittlung von praxisorientiertem Wissen durch „Learning-by-doing“. Denn durch das Force-Feedback ähnelt das VR-Training immer mehr dem Training in der physischen Realität.

Links und Literatur zum Beitrag

[1] Dinero, Donald A. (2005): Training within industry. The foundation of lean. New York, NY: Productivity Press. ISBN 978-1563273070.

[2] Müller, Götz (2018): TWI. Training Within Industry: Unterweisen, führen, verbessern. München: Hanser. Hanser eLibrary.

[3] VARyFAST (2020): Produktionsprozess AR- und VR-Anwendungen. Unveröffentlicht. Technische Hochschule Aschaffenburg; Julius-Maximilians-Universität Würzburg; Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt. Aschaffenburg.

[4] Unity Technologies (2021): Unity – Manual: Scenes [online]. 18. Oktober 2019 [Zugriff am: 16. Februar 2021]. https://docs.unity3d.com/560/Documentation/Manual/CreatingScenes.html

[5] Cipresso, Pietro; Chicchi Giglioli, Irene Alice; Alcañiz, Mariano; Riva, Giuseppe (2018): The Past, Present, and Future of Virtual and Augmented Reality Research: A Network and Cluster Analysis of the Literature.
https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2018.02086/full

Hochschule entwickelt Schulungsprogramm für virtuelle Werkstatt.