Ein logischer Schritt

Text: Ralf Robers

Im Zuge von „Digitalisierung“ und „Industrie 4.0“ erzeugen die Unternehmen zunehmend praktische Anwendungen. Bislang erlauben die Datenmodelle nicht, Benutzerinformationen gezielt auszutauschen. Mit dem internationalen Standard „iiRDS“ wird diese Lücke endlich geschlossen.

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 08:45 Minuten

Zur Jahrestagung 2017 in Stuttgart hat die tekom mit der Aufforderung zum „Request for Comments (RfC)“ der interessierten Öffentlichkeit die Vorversion ihres neuen Standards „intelligent information Request and Delivery Standard“ vorgestellt, kurz iiRDS. Der Standard wurde von den engagierten Mitgliedern der Arbeitsgruppe „Information 4.0“ in ehrenamtlicher Arbeit entwickelt und als Open-Source-Projekt realisiert. Damit setzt der Fachverband einen starken Impuls in Richtung Standardisierung im Industrie-4.0-Umfeld.

Die interaktive Insellösung

Überall liest und hört man, dass sich Geräte und Maschinen inzwischen selbstständig beim Benutzer melden, zum Beispiel wenn eine Wartungsarbeit ansteht. So erkennen moderne Kaffeeautomaten frühzeitig, ob Verkalkung droht, und zeigen einen Hinweis auf dem Display an. Hochwertige Geräte unterstützen den Benutzer dann sogar mit gezielten Handlungsanweisungen, um die nötigen Schritte auszuführen. So weit, so gut. Aber jeder Kaffeemaschinenhersteller realisiert diese Interaktivität heute nach seinen eigenen Vorstellungen: Die Einbettung von Benutzerinformationen in das User Interface wird „zu Fuß“ programmiert und idealerweise sogar mit den strukturierten Informationsbausteinen aus dem Content-Management-System der Technischen Redaktion verknüpft. Doch dieses Zusammenführen wäre mit Sicherheit um einiges effizienter, wenn sich die Komponenten von Steuerung und Benutzerinformation ohne Programmieraufwand automatisch selber finden würden.

Der Bruch in der Kommunikationskette

Nehmen wir ein anderes Beispiel und stellen uns eine moderne Werkzeugmaschine vor: Über ein zentrales Bedienterminal mit Touchscreen wird heute schon interaktiv mit dem Gerät kommuniziert. Durch den Einbau von Sensoren und der zugehörigen Auswertelogik führen kritische Maschinenzustände zur Ausgabe von Meldungen. Sie fordern den Benutzer auf, einen bestimmten Sachverhalt zu prüfen, oder weisen ihn auf eine anstehende Wartungsarbeit hin.

Will der Benutzer den Vorgang konkret ausführen, wird er auf eine Prozedur in der gedruckten Betriebsanleitung verwiesen. Hier besteht also ein Bruch in der Kommunikationskette, weil die Maschinensteuerung in diesem Fall keine Datenverknüpfung mit den entsprechenden Inhalten der Betriebsanleitung hat. Der Benutzer muss sich im Zweifel die zugehörige Handlungsanweisung individuell organisieren. Das kostet ihn Zeit und das Unternehmen Geld.

Selbst wenn es Hersteller schaffen, die Benutzerinformationen auf dem Bedienterminal anzuzeigen und kontextsensitiv mit der Maschinensteuerung zu verknüpfen – es bleibt ein individuelles Vorgehen, eingeschränkt auf ein bestimmtes Modell oder einen bestimmten Hersteller. Auch in diesem Fall hätte ein automatisiertes Zusammenführen erhebliches Verbesserungspotenzial.

Der Albtraum des Anlagenbetreibers

Zum Dritten: Der Betreiber einer industriellen Großanlage, zum Beispiel einer Raffinerie, setzt auf seinem Betriebsgelände und in seinen Aggregaten die unterschiedlichsten Produkte ein. Der für die Wartung verantwortliche Ingenieur ist mit der Aufgabe betraut, den bedarfsgerechten Einsatz seines Wartungspersonals zu planen und zu organisieren. Damit er das erfolgreich leisten kann, muss er die Technischen Dokumentationen sämtlicher Anlagenkomponenten zusammenstellen und sichten. Auf diesem Weg kann er die zugehörigen Wartungsarbeiten und -intervalle identifizieren.

Die Informationen werden manuell zusammengetragen und beispielsweise in die Datenbank eines Maintenance Management Systems (MMS) übernommen. Damit erfolgt auf Basis der erfassten Daten die Einsatzplanung und Erzeugung der Wartungsaufträge. Hier ist es vor allem die Menge der Dokumente und die fehlende Standardisierung der Inhalte von Betriebs- und Montageanleitungen, Datenblättern oder auch technischen Unterlagen. Das Zusammentragen und Sichten aller Inhalte verursachen einen immensen Zeitaufwand. Hinzu kommt, dass auch Änderungen an den einzelnen Quelldokumenten nachverfolgt und berücksichtigt werden müssen. Die Anlagenbetreiber haben aktuell großen Handlungsbedarf und drängen auf Optimierung durch Vereinheitlichung und Automatisierung mit dem Ziel, dass Herstellerinformationen digital ausgetauscht und ausgewertet werden können. Aktuell werden diese Anforderungen in der neuen VDI-Richtlinie 2770 formuliert, die in diesem Jahr erscheinen soll.

Der Handlungsbedarf

Kaffeevollautomat, Werkzeugmaschine und Raffinerie – die Beispiele beschreiben die gegenwärtige Situation aus der Benutzerperspektive. Doch wie sieht es auf der Gegenseite aus, bei den Technischen Redakteuren, die Benutzerinformationen und Betriebsanleitungen erstellen? Durch den nahezu flächendeckenden Einsatz von Content-Management-Systemen in den Technischen Redaktionen entstehen Benutzerinformationen heute modular als Informationsbausteine oder Topics. Anhand von Strukturen und Metadaten können die Benutzerinformationen prinzipiell zu beliebigen Informationsprodukten zusammengestellt und publiziert werden.

Doch ein übergreifendes Modell, das die grundlegende Architektur von Benutzerinformationen auf semantischer Ebene generisch beschreibt, fehlt bislang. Jede Firma, jeder Konzern oder auch jede Branche hat eigene Konzepte für Inhaltsstrukturen, Informationsbausteine, Metadaten und Publikationen. Hinzu kommt die Vielzahl eingesetzter Content-Management-Systeme unterschiedlicher Hersteller sowie DITA-basierter Tool-Umgebungen. Diese Umgebungen benötigen wiederum spezifische Metadaten, um Inhalte zu aggregieren, zu identifizieren oder zu publizieren.

Aus höherer Warte betrachtet, gibt es also auf dem Feld der digitalen Technischen Dokumentation inzwischen eine unübersehbare Vielfalt an Vorgehensweisen zur Erstellung von Benutzerinformationen, die in eine äußerst heterogene Informationslandschaft geführt hat. Blickt man in die Zukunft von Industrie 4.0 und den hier diskutierten Szenarien, so sind das denkbar schlechte Voraussetzungen. Denn genauso wie Systeme unterschiedlicher Hersteller nur dann mit­ein­ander kommunizieren können, wenn standardisierte Protokolle verwendet werden, so gilt das analog für die zugehörigen Benutzerinformationen. Genau das soll iiRDS leisten.

Der digitale Zwilling

Das Szenario von Industrie 4.0 geht davon aus, dass jedes physische Objekt in der realen Welt durch Reflexion identisch in der Informationswelt abgebildet wird. Diese Repräsentanz des realen Objekts in der Informationswelt wird durch Metadaten vollständig beschrieben und als „digitaler Zwilling“ bezeichnet (Abb. 01).

Abb. 01 Modell des digitalen Zwillings. (Quelle Roland Heidel)

Gedanklich und konzeptionell bilden das reale Objekt und sein digitaler Zwilling die so genannte „Industrie-4.0-Komponente“. Im Fachjargon werden sie als „Asset“ und „Verwaltungsschale“ bezeichnet (Abb. 02).

Abb. 02 Die Industrie-4.0-Komponente bestehend aus Asset und Wartungsschale. (Quelle Roland Heidel)

In den Metadaten der Verwaltungsschale befinden sich also alle Informationen über das reale Objekt, einschließlich seiner Eigenschaften, Zustände und Abhängigkeiten. Was liegt näher, als diese Metadaten um die Metadaten für die zugehörigen Benutzerinformationen zu ergänzen? Genau diese zusätzlichen Metadaten können anhand des iiRDS-Standards einheitlich definiert werden. Die tekom möchte daher über die Kontakte zur Arbeitsgruppe Industrie 4.0 das dort entwickelte „Rahmenarchitekturmodell Industrie 4.0“ (RAMI) um die iiRDS-Metadaten erweitern.

Die Vorarbeit der Technischen Redaktion

Die am Anfang beschriebene Situationsanalyse ernüchtert zunächst. Und sie zeigt, dass der Technischen Kommunikation als Ganzes bislang eine übergreifende Strategie für das Phänomen „Digitalisierung“ fehlt. Mit iiRDS wird es jedoch möglich, die bisher in den Technischen Redaktionen geleisteten unerlässlichen Vorarbeiten zu Informationsstrukturierung, Modularisierung, Wiederverwendung oder auch Metadaten weiter zu veredeln. Der Vorteil ist, dass sie sich in dem skizzierten Szenario von Industrie 4.0 weiterverwenden lassen. Der Standard ist aktuell der einzige zeitgemäße Ansatz, um stark strukturierte Informationseinheiten über semantische Beziehungen zu verknüpfen, um eine kontextsensitive, dynamische Ein- und Ausgabe zu erzielen.

Im iiRDS-Szenario spielt es keine Rolle mehr, ob die Quellinformation aus einer Maschinensteuerung oder einer Technischen Dokumentation kommt. Und der Empfänger der Information kann ein Mensch, eine Software oder auch eine Schnittstelle sein. Diese universelle Verarbeitung von Benutzerinformationen zeigt das ganze Potenzial des neuen tekom-Standards auf.

Die konzeptionelle Basis

Die Mitglieder der Arbeitsgruppe „Information 4.0“ haben drei wesentliche Vorarbeiten für die Realisierung des Standards geleistet:

1. Definition der Anforderungen anhand von User Stories: Es wurden zehn Themenfelder mit insgesamt 59 einzelnen Anwendungsfällen erarbeitet und anhand der MoSCoW-Methode priorisiert (Inf. 01).

Beispiele:

  • „Als Wartungstechniker möchte ich im Falle einer Fehlfunktion Anweisungen kontextsensitiv angezeigt bekommen, um angemessen handeln zu können.“ (verpflichtend)

oder

  • „Als User/Bediener/Wartungstechniker möchte ich bei Änderung der Software-Konfiguration oder von Hardware-Komponenten auch die entsprechend angepasste Benutzer­information, so dass System und Information immer zusammenpassen.“ (verpflichtend).

2. Definition einer zweisprachigen Terminologie (Deutsch/Englisch): Für sämtliche Syntax-Elemente von „iiRDS“ wurden verbindliche Begriffe festgelegt. Dazu gehören unter anderem die Bezeichnungen für Dokumenttypen, Informationstypen oder auch Lebenszyklusphasen. Diese Arbeit wurde eng mit der tekom-Arbeitsgruppe „Terminologie in der Technischen Kommunika­tion“ abgestimmt, um widerspruchsfreie Begriffe zu verwenden.

3. Erarbeitung einer Ontologie und die Modellierung ihrer Bestandteile: Vor der technischen Umsetzung von iiRDS wurde eine umfassende und weitgehend vollständige Ontologie erarbeitet, die sämtliche Aspekte und Dimensionen der Aufgabenstellung erfasst und anhand von Zusammenhängen durchstrukturiert. Neben den Informationsobjekten selbst wurden auch deren Zuordnungen in Klassen, Instanzen und ihre Beziehungen zueinander modelliert. Abbildung 3 zeigt einen Teil der definierten Klassen und deren mögliche Unterklassen.

Abb. 03 Definierte Klassen und mögliche Unterklassen aus Ontologien von iiRDS. (Quelle tekom)

Interessenten können sich das vollständige Modell und die Spezifikation nach vorheriger Registrierung im Internet herunterladen: https://iirds.tekom.de/

MOSCOW – eine Methode zur Priorisierung

Die MoSCoW-Priorisierung ist eine Methode, die es zum Beispiel einem Projektmanager ermöglicht, die Umsetzung von Anforderungen anhand ihrer Wichtigkeit und ihrer Auswirkung zu priorisieren.

Seinen Ursprung hat die MoSCoW-Priorisierung in der Dynamic Systems Development Method.

MoSCoW ist ein Akronym und steht für:

M – MUST (unbedingt erforderlich)

S – SHOULD (sollte umgesetzt werden wenn alle MUST-Anforderungen trotzdem erfüllt werden können)

C – COULD (kann umgesetzt werden, wenn die Erfüllung von höherwertigen Anforderungen nicht beeinträchtigt wird)

W – WON’T (wird diesmal nicht umgesetzt, aber für die Zukunft vorgemerkt)

Die kleingeschriebenen Buchstaben im Akronym sind nur zum Zweck der besseren Lesbarkeit vorhanden und haben keine weitere Funktion.

Inf. 01  (Quelle Wikipedia)

Der Aufbau von iiRDS

Der neue tekom-Standard besteht aus zwei Hauptbestandteilen: Metadaten und Paketformat.

1. Standardisierte Metadaten: Technisch wird eine Ontologie durch ein komplexes Geflecht von Inhalten, Beziehungen, Attributen und Ressourcen abgebildet. Es kann als Satz von standardisierten, strukturierten Metadaten verstanden werden. Bei iiRDS werden diese Zusammenhänge in einem RDF-Schema modelliert – Resource Description Framework. RDF ist ein Datenmodell des semantischen Webs, in dem die Daten Aussagen über Ressourcen sind. Die Aussagen werden dabei als Tripel modelliert – Abbildung 4. Tripel steht dabei für Subjekt, Prädikat, Objekt.

Abb. 04 Beispielhafte Modellierung von iiRDS-Elementen. (Quelle tekom)

Die iiRDS-Metadaten sind in einem Klassensystem organisiert, das konzeptionell aus drei Hauptklassen besteht:

  • Information Unit – repräsentiert eine iiRDS-Ressource; kann ein Paket, Dokument, Topic oder Fragment sein
  • Information Type – beschreibt Informationsarten wie Dokumentart, Topictyp oder Thema
  • Documentation Metadata – funktionale Metadaten wie zum Beispiel Wartungsintervalle oder Ereignisse; Andockpunkte für Produkt- und Komponentenmetadaten aus anderen Domänen

Daneben sind die Hilfsklassen „selector“ und „rendition“ vorhanden, die für die Auswahl einer physikalischen Quelldatei und für Aufbau von Verzeichnissen benötigt werden.

2. Standardisiertes Paketformat: Mit dem Paketformat wird der Transport beziehungsweise der Austausch der Informationen organisiert. Hierzu werden die Daten in einem ZIP-Container mit einer vorgegebenen Verzeichnisstruktur zusammengefasst – Abbildung 5.

Das Format der Inhaltsdateien wird vom Standard nicht vorgegeben. Hier können sowohl stark strukturierte Daten, zum Beispiel Topics in XML-Format, als auch gering strukturierte Daten verwendet werden, zum Beispiel Dokumente im PDF-Format.

Abb. 05 Daten werden über eine vorgegebene Verzeichnisstruktur und einen ZIP-Container ausgetauscht. (Quelle tekom)

Der Standard in der Praxis

Will ein Unternehmen iiRDS in der eigenen betrieblichen Praxis umsetzen, so sind gezielte Vorbereitungen erforderlich. Es wird leider nicht ohne zusätzliche Arbeit gehen, denn die Umstellung erfordert zumindest ein Mapping von vorhandenen Informationsbausteinen und Metadaten mit den Strukturelementen des Standards und deren Metadaten. Erste Vorgehensmodelle sind bereits in Arbeit und können zur Orientierung dienen. Diesen Anpassungsprozess wird die tekom in den kommenden Monaten über weitere Informationen und Publikationen so weit wie möglich unterstützen. Darüber hinaus haben viele Hersteller von Content-Management-Systemen bereits angekündigt, ihre Produkte für die Nutzung von iiRDS zu erweitern – ein wichtiger Beitrag für die angestrebte Standardisierung.

Konsortium für zukünftige Weiterentwicklung gegründet

Im Januar 2018 wurde das iiRDS-Konsortium offiziell gegründet. Der innerhalb der letzten zwei Jahre in einer tekom-Arbeitsgruppe entwickelte Standard iiRDS wird von nun an unter der größer auf­gezogenen Struktur weiterentwickelt. Unter den bislang 25 internationalen Gründungsmitgliedern sind Systemhersteller, Industriefirmen und Beratungsunternehmen vertreten, außerdem Universitäten und Technische Redakteure. Mit solch gesammelter Expertise ist die Weiterentwicklung und Implementierung von iiRDS mit größter Spannung zu beobachten. Das Konsortium ist weiterhin für Interessierte geöffnet. Informationen über das Konsortium und wie ein Unternehmen oder eine Hochschule darin Mitglied werden kann, stehen auf der Webseite von iiRDS: iirds.tekom.de.

Inf. 02  Quelle Judith Hallwachs

 

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