Dampf im Kessel

Text: Andreas Baumert

In vielen Nationen sucht man nach Wegen, unverständliches Kauderwelsch loszuwerden. 2020 wurden einige Meilensteine erreicht, die den Weg in die sprachliche Zukunft bereiten. Mit Normen beginnt, was in wenigen Jahren selbstverständlich ist.

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 07:00 Minuten

Spätestens in einem Jahr wird ein internationaler Standard alle Hürden nehmen: ISO 24495-1 – Plain Languages. [1] Damit sind wir erstmals in der Lage, weltweit über einfache Sprache zu reden und dabei auch das Gleiche zu meinen. Ein ungeheurer Fortschritt! Bürger können sich in Japan ebenso darüber freuen wie in Südafrika oder Deutschland.

24495-1 nennt vier Prinzipien eines Dokuments, die für alle führenden Sprachen gelten sollen:

1. Der Inhalt entspricht dem, was Leser brauchen oder erwarten

2. Leser finden leicht, was sie suchen oder brauchen …

3. Sie können den Inhalt verstehen

4. Sie können den Inhalt nutzen … [2]

Nationale Normungsgremien können diesem Standard zustimmen und ihn als Grundlage eigener Entwicklungen verwenden.

Das wird Auswirkungen haben, deren Bedeutung nur im Ansatz zu erkennen ist. Die ein Produkt begleitende Literatur gehört dazu. Was in der Europäischen Union hergestellt und unter dem Etikett „einfache Sprache“ kommentiert wird, kann diese Bezeichnung andernorts nur zu Recht führen, wenn Texte und Dokumente dort gleichen Anforderungen genügen.

Andere sehen die Sprengkraft eher in politischen und sozialen Folgen. Die offene oder freie Gesellschaft rückt ein bisschen näher, wenn Wissen verständlich wird. Komplizierte Sprache treibt viele Bürger überall auf der Welt in die falschen Arme, zu Fälschungen und Verschwörungstheorien. Dagegen fördert einfache Sprache die Bildung der Leser, weil sie Zugang zu schwer verständlichen Welten mit begreifbaren Texten verschafft.

10 Jahre Entwicklung

Am 13. Oktober 2020 wurde gefeiert. 10 Jahre zuvor war in den Vereinigten Staaten der Plain Writing Act unter Präsident Obama in Kraft getreten. [3] Es handelt sich um ein Gesetz, das von allen Behörden und Einrichtungen des Bundes den Gebrauch einfacher Sprache verlangt.

Ergänzend erklärt ein Dokument, wie man es schafft, in einfacher Sprache zu schreiben: die Federal Plain Language Guide­- lines. [4]

Wer diesen Text liest, findet darin auch den Ursprung von ISO 24495-1. Ursache ist die beharrliche Arbeit der Protagonisten. Sie haben lange miteinander gestritten und sind nun zu vorzeigbaren Ergebnissen gelangt, die demnächst der Welt vorliegen.

Die Guidelines wurden schon Mitte der 90er Jahre verfasst und öfter verbessert. „Wir hoffen“, steht im Vorwort, „dass dieses Dokument Ihnen hilft, Ihre Texte und die Ihrer Dienststelle zu verbessern. Ihre Leser können dann finden, was sie brauchen, es verstehen und nach ihren Wünschen nutzen.“ [5] So ähnlich wird es im neuen Standard auch heißen.

Zugang für alle: ein Bürgerrecht

Unter diesem Banner trafen sich Experten anlässlich des 10. Jahrestages auf einer virtuellen Konferenz vom 13. bis 15. Oktober 2020.

Man sprach über Erfolge und erfuhr, wie einfache Sprache derzeit genutzt wird. Zwei Aspekte sind mir besonders aufgefallen:

  1. Plain language für die Justiz; das ist eine uralte Forderung, die man sogar bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen kann. Französisch war damals die Sprache des Rechts in England, der einfache Mann verstand nichts. Das wäre auch heute im Englischen noch ähnlich, hätte sich nicht im letzten Jahrhundert Grundlegendes geändert.
    Heute gehören sogar Staatsanwälte, Verteidiger und hohe Beamte zu denen, die einfache Sprache in der Justiz vorantreiben.
    Bei uns ist die Sprache von Justiz und Verwaltung aus anderen Gründen ebenfalls ein Albtraum. Doch langsam bewegt sich auch hierzulande einiges.
  2. Ein Gesichtspunkt wird häufig vernachlässigt: Dokumente von Arzt, Anwalt und Behörde lösen bei manchem Magenschmerzen aus, wenn er sie nur in den Händen hält und den Briefumschlag noch ungeöffnet an den Tisch trägt.

Darum kümmern sich Initiativen, von denen mehrere auf der Konferenz berichteten. Einfache Sprache rückt den Leser in den Vordergrund und berücksichtigt seine Nöte, wie Melinda Melcher aus Zürich zusammenfasst: „In Krisenzeiten sind wir alle verletzlich. Empathische Kommunikation mit Kernbotschaften wie ‚ich höre dich, ich sehe dich, ich kann deine Situation nachempfinden‘ zeigt Solidarität. Sie adressiert geteilte Erfahrungen.“

Es ist nicht so schwer, für bestimmte Situationen einen Hilfetext etwa so zu formulieren:

„Das scheint nicht geklappt zu haben. Wollen Sie lieber Schritt für Schritt noch einmal von vorne beginnen? Oder möchten Sie unseren Service anrufen? Vielleicht ist ja unsere Dokumentation doch nicht so gut, wie wir denken.

Wir wollen jedenfalls, dass Sie mit uns zufrieden sind.“

Bis wir so miteinander umgehen, wird wohl noch einige Zeit vergehen. Ich wäre gerne der Kunde, mit dem man so spricht. Wenn Sie diese Zeilen nicht als Technischer Redakteur lesen, sondern als einer, der seit Tagen vergeblich mit einem Softwareproblem kämpft, dann haben wir uns verstanden.

Eine deutsche Norm

ISO-Standards sollen weltweit angewandt werden können. Für die deutsche Sprache dürfte 24495-1 keine Probleme bereiten, sobald der Standard einmal fertig und gültig ist. Er wird uns dann womöglich in Übersetzung und Anpassung als eine Norm begegnen, die das DIN mit herausgibt. Wie kann es danach weitergehen?

Ein möglicher Weg ist, Grundlagen einfacher deutscher Sprache in einer folgenden Norm festzuhalten. Das bedeutet, die Normierung muss direkt an das Gestänge, die Federn und Bolzen der deutschen Sprache herangehen – eine heikle Aufgabe.

Gefragt ist eine Reihe von Kompromissen, denn jeder, der sich mit diesem Thema befasst, vertritt ein – oft: sein – Konzept. Manches passt überhaupt nicht zusammen, weil wir über einfache Sprache noch keine bewährte Diskussionskultur haben.

Dem versucht Krishna-Sara Helmle aus Tübingen zu begegnen. Sie ist Mitglied von Plain, einer der großen drei Organisationen. [6] Für den 20. und 21. November 2020 hatte sie zu einer Netzwerktagung andere Plain-Mitglieder und Interessenten eingeladen. Wieder eine Diskussionsrunde, die trotz vieler Differenzen gut miteinander reden kann.

In solchen Gesprächszirkeln und in dem Arbeitskreis zur einfachen Sprache des DIN wird die Entwicklung vorangetrieben. In dieser Gruppe wirkt auch die tekom mit, nicht zuletzt weil einfache Sprache im DIN unter „Technische Kommunikation“ eingeordnet ist.

Eine Hürde zeigt sich schon zu Beginn: Einfache Sprache, wie ich sie verstehe, ist kein Block aus Stein gehauen, der sich allen Betrachtern gleichermaßen zeigt. Sie hängt ab vom Typ des Lesers, für den sie genutzt wird, und vom Dokumenttyp. Vielleicht kann man sie am besten beschreiben, wie Abbildung 01 zeigt.

Einfache Sprache eingeteilt in Kern und variablen Bereich.

Abb. 01 Kern und variabler Teil [7].

Vermutlich ist es sinnvoll, zwischen einem Kern und einem variablen Teil zu unterscheiden.

Zum Kern gehört die Empfehlung: „Benutzen Sie keine veralteten Wörter.“ Wie kann man herausfinden, welches Wort veraltet ist? Nehmen wir als Beispiel das Wort „weiland“, das manche gerne gebrauchen. Mein Wörterbuch nennt es veraltet, im Duden ergänzt durch „noch altertümelnd“. [8] Doch Autoren müssen nicht einmal solche Bücher bemühen.

Das Sprachgefühl lässt ahnen, dass so ein Wort von gestern ist. Wer solche Wörterbücher nicht verfügbar hat oder nicht mag, kann sich beim Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache im Internet sachkundig machen: „weiland“ hatte seine große Zeit im 17. Jahrhundert. Nun ist es von uns gegangen, was manche Autoren noch nicht begriffen haben; nur deswegen sieht man es überhaupt noch (Abb. 02).

Beispiel eines Wortes und dessen Verwendung über die Jahrhunderte.

Abb. 02 weiland: Ein Blick sagt alles [9].

Solche Wortleichen findet man also durch Sprachgefühl und gelegentliches Nachschlagen. Sie sind in einfacher Sprache immer tabu, unabhängig von Leser und Dokumenttyp. Zum variablen Teil einfacher Sprache gehören Fremdwörter. Unverzichtbar, nur mit Erklärung oder auf keinen Fall: Ohne Ergänzungen sind Aussagen über Fremdwörter unsinnig.

Zusammen geht‘s besser

Heute können wir unser Wissen systematisieren, es weitergeben und von anderen lernen. Auch international: Parallel zur Feier des 10. Jahrestages fand am 13. Oktober auch in Sankt Petersburg ein virtuelles Treffen statt. Einfache und Leichte Sprache sollen ebenfalls in Russland vorangetrieben werden. Dazu wurden Teilnehmerinnen aus Deutschland und der Verfasser eingeladen.

Einfache Sprache (простой язык) steht in Russland noch am Anfang, Regierung, Banken und gemeinnützige Organisationen seien sich aber ihrer Notwendigkeit bewusst, versichert Dr. Natalia Nechaeva, die mit ihrer Kollegin Emma Kairova die Sitzung organisiert hatte.

Ebenso wenig, wie wir für das Deutsche Regeln des Englischen unverändert übernehmen können, geht das für Russisch. Man muss von vorne anfangen. Wie auch bei uns ist der Unterschied zur Leichten Sprache öffentlich nicht deutlich genug.

Die Schwierigkeiten sind vielleicht etwas größer, ihre Struktur ist aber ähnlich der deutschen. Deswegen arbeiten Nechaeva und ihre Kollegin sowohl im DIN-Arbeitskreis als auch in Plain mit.

Wie kann man anfangen?

Einfache Sprache kommt, daran führt kein Weg vorbei. Ebenso sicher ist, dass die meisten Technischen Redakteure nicht die Zeit haben, jetzt die Literatur zu wälzen. Deswegen kann für den ersten Blick schon der Vorschlag der Europäischen Kommission reichen. [10]

Nur wenige werden im Internet recherchieren, soziale Medien durchsuchen, Bücher und Artikel verschlingen. Das macht nichts, wir stehen ja noch am Anfang, an dem die tekom selbst beteiligt ist.

Wer von den Lesern einfache Sprache mag, hat Grund sich zu freuen.

Links und Literatur zum Beitrag

[1] Balmford, Christopher (7. September 2020): Where we’re at, next steps, and the back story. https://www.iplfederation.org/an-iso-plain-language-standard/

[2] Baumert, Andreas (2020): Einfach schreiben. In: technische kommunikation, H. 1, S. 35–39, S. 39.

[3] https://digital.gov/resources/plain-writing-act-of-2010/

[4] Catania, Kathryn/Spivey, Katherine/ Vincent, Miriam/Stark, Jamie (2011): Federal Plain Language Guidelines. 1. Revision, May. Washington, DC. Auch im Internet.

[5] Aus den Guidelines, Seite i, sehr frei übersetzt.

[6] https://plainlanguagenetwork.org/. Die anderen beiden Organisationen sind Clarity und das Center for Plain Language. Jeder kann unabhängig von der Nationalität Mitglied werden. Informationen über künftige Treffen der Plain-Gruppe unter info(at)leicht-verstehen.de

[7] Verändert aus Baumert, Andreas (2019): Mit einfacher Sprache Wissenschaft kommunizieren. Heidelberg: Springer, S. 38.

[8] Paul, Hermann [u. a.] (2002): Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., üb. u. erw. Aufl., Tübingen: Niemeyer, S. 1155 und Auberle, Anette (Hg.) (2003): Duden – Deutsches Universalwörterbuch. 5., üb. Aufl., Mannheim: Dudenverlag, S. 1794.

[9] https://www.dwds.de/wb/weiland

[10] Europäische Kommission (2011): Klar und deutlich schreiben. Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union. Online unter dx.doi.org/10.2782/2894 Titel des Verfassers unter http://www.recherche-und-text.de/dokumente/LL-eS.pdf

Rund um einfache Sprache steigt der Druck auf die Nationen.