Reparieren kultiviert Wissen

Text: Mathias Maul

Um reparieren zu können, muss man das zu Reparierende nicht nur verstehen, man muss es wirklich verstehen wollen. Dort liegt die Verbindung zum Persönlichen desjenigen, der repariert, und die Chance, aus dem Prozess nachhaltig zu lernen.

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 07:21 Minuten

Viel zu platt wäre es, einen Text über das Reparieren mit der üblichen Nachhaltigkeits-Predigt einzuleiten. Klar, besser ein neuer Akku eingebaut als ein neues Gerät gekauft, besser einen Absatz überarbeitet als das Kapitel neu geschrieben. Wissen wir alles. Was vor gut 1400 Jahren in Japan geschah, wissen Sie vielleicht noch nicht. In der Stadt Ise hatte jemand die Idee, die riesige Schrein-Anlage abzubauen und neu zu errichten.

Nicht nur einmal, weil die Anlage reparaturbedürftig war, sondern regelmäßig alle 20 Jahre. Und nicht nur einen Schrein: mehr als 60 Bauwerke mit allem Drumherum. Mit hunderten Tonnen Holz, handverlesen, jahrelang eingeweicht, getrocknet und gelagert, errichten seitdem Handwerker ohne einen einzigen Nagel das Neue als Kopie des Alten, auf Grundstücken von so einer Größe, dass immer Platz ist für den nächsten Ab- und Neubau in 20 Jahren. Bis heute ist ungeklärt, ob dieser Plan der Versammlung der Priester entsprang oder, pragmatischer, der örtlichen Handwerker-Gilden.

Der ZEIT-Leser denkt unweigerlich an Theseus’ Schiff und fragt sich, ob der neue Tempel denn derselbe ist wie der alte; der Praktiker sagt schlicht: Wenn es die Funktion erfüllt, dann ist doch alles gut. Im Raum zwischen Pragmatismus und Philosophie finden wir den Wert des Reparierens. Nur oberflächlich dient es dazu, verlorene Funktionen wieder herzustellen, der Prozess des Reparierens an sich geht viel tiefer – und lässt uns selbst näher kommen. Eine kurze Typologie des Reparierens gibt den Rahmen, in dem wir uns vom Einfachen ins (Über)Komplexe vordenken.

Ordnungen des Reparierens

Der Tausch eines defekten Moduls durch ein anderes, das Ersetzen eines Textbausteins durch einen der neuen Norm genügenden: Das Reparieren erster Ordnung erfordert keine besonderen Fertigkeiten. Beim Reparieren zweiter Ordnung, zum Beispiel dem Sortieren einer verknoteten Drachenschnur oder dem Debuggen eines sauber gekapselten Programm-Moduls ist es bereits nötig, das zu Reparierende zu verstehen; relativ seicht genügt, weil das Gesamtsystem immer im Blick ist. Hier helfen noch Reparierhilfen wie Autocomplete, Termdatenbanken, Linter oder die recht neuen KI-Systeme wie GPT oder Copilot von github.

Ist es das nicht mehr und ist das Kaputte in ein System von Abhängigkeiten eingebettet, bei einer API beispielsweise oder einem komplexen Dokumentationsprojekt, beginnt das Reparieren dritter Ordnung: Das eigene Reparieren hat Auswirkungen auf andere, oft verborgene Teile des Gesamtsystems, und man bemerkt sie oft nur zeitversetzt, wenn überhaupt. Spätestens ab der dritten Ordnung baut der Reparierende eine Beziehung zum Kaputten auf, es geht immer weniger um das Verstehen der Technik, sondern um das Verstehen der Intention, ähnlich wie ein Richter, der einen Gesetzestext nicht wörtlich liest, sondern immer auf das auslegen muss, was gemeint ist.

Ich spreche von der vierten Ordnung des Reparierens, wenn andere Menschen, Teams oder Organisationen maßgebliche Teile („Stakeholder“) in diesen Systemen sind. Sobald die technische Intervention an einer Stelle eine Befindlichkeit an anderer auslöst, explodiert die Komplexität des Reparaturprozesses. Das, was mit dem Modulaustausch in Bezug auf Zeit, Budget und Nervenkostüm noch deterministisch war, wird beim Reparieren vierter Ordnung chaotisch – oder, freundlicher gesagt, menschlich.

Von der Seele schnattern

Mit steigender Ordnung wird das Prozesshafte des Reparierens deutlicher, die Reflexion wichtiger. Wenn Programmierer, Autoren und andere Hartdenker beim Reparieren nicht weiterkommen, ist die rubber ducky technique sehr beliebt: Man setzt ein Gummientchen auf den Schreibtisch und erzählt ihm, wann der Fehler auftritt oder wieso der Absatz so nicht funktionieren kann sowie die Hypothesen über das Wieso, Weshalb, Warum.

Damit eine kleine Ente das verstehen kann, muss man sehr … einfach … sprechen, und dies geht nur, indem man sich und seine eigenen gedanklichen Prozesse hinterfragt. So spiegelt die Ente Teile des Selbst, im Idealfall geduldig und gerade so leicht von Begriff, dass man nicht müde wird, es nochmal zu erklären, und dann nochmal, nur einfacher.

Komplexe Reparierprozesse setzen zum einen voraus, dass man das Problem versteht und mehr noch, dass man es tatsächlich verstehen will und bereit ist, den Prozess des Verstehens selbst zu durchdringen und optimieren. Das Reparieren wird zum Erkenntnisprozess verkleidet als Übung, und wenn wir es zulassen, ändert es uns selbst.

Dabei bergen auch zunächst einfach scheinende Prozesse Potenzial für diese Komplexität: Irgendwann fährt es wieder, sagt meine Kollegin seit über einem Jahr, und tatsächlich fuhr ihr Auto immer wieder, dann blieb es liegen, wurde abgeschleppt, wieder und wieder, und steht nun in der (tatsächlich!) achten Werkstatt, zur Drucklegung dieses Hefts vielleicht schon in der zehnten. Vielleicht läge es an der mediterranen Gelassenheit, meint sie, man müsse ja auch Geduld haben beim Reparieren. Wieso sie es noch nicht hat verschrotten lassen? Ehrgeiz. „Solange ich noch nicht alles ausprobiert habe, gebe ich nicht auf, das ist der Ätsch-Faktor. So bin ich auch in Beziehungen. Wenn ich weiß, ich habe alles getan, was ich wusste und konnte, sage ich tschüs. Vorher nicht.“ Das kaputte Auto als Wegweiser zum Reparieren des Selbst; wären diese Zitate nicht echt, hätte ich sie besser nicht erfinden können.

Konvergenz der Unfertigkeiten

Im Alltagsgeschäft lassen sich solche Entscheidungen – ob, wann und wie etwas repariert wird und wann man es lieber neu macht – freilich nur selten so intuitiv treffen. Bei komplexen Eingriffen stellt sich die Frage der Wirtschaftlichkeit: Sind weitere Reparaturen nur versunkene Kosten und sollte man das (Teil-)System nicht besser austauschen oder von vorn beginnen?

Bei komplexen Teams stellen sich zusätzlich Fragen der Entscheidungshoheit. „Ist es nur kaputt, oder ist es wirklich kaputt?“ fragt man sich dann. Vor allem bei schweren Defekten divergieren dann die Meinungen in Bezug auf die Priorisierung, nicht zuletzt getrieben von der unternehmens- oder teampolitischen Agenda: Was genau ist eigentlich zu reparieren, und wann?

Die Qualitätsmanager unter der Leserschaft kennen vielleicht die Geschichte der amerikanischen Kampfflugzeuge, die sich im 2. Weltkrieg gerade so und mit vielen Einschusslöchern noch auf die Flugzeugträger retteten. Die Zahl der heimkehrenden Piloten schnellte nach oben, als man nicht mehr die löchrigen Stellen der Maschinen besonders panzerte, sondern die, an denen gerade keine Schäden waren. (Denn die Techniker bekamen die Flugzeuge, die dort getroffen wurden, nie mehr zu Gesicht.)

Verbunden mit der Frage, was man repariert und ob der Blick auf das zu Reparierende überhaupt passt, ist die nach dem Aufwand in Zeit, Geld und Nerven. Den kann man nur schätzen, und die Genauigkeit der Schätzung nimmt mit steigender Ordnung der Reparatur ab. Zudem ändert sich im Prozess der eigentliche Aufwand gern sprunghaft, das weiß jeder, dessen Zahnarzt inmitten einer Routinebehandlung „Oh, was ist das denn?“ murmelte. Auch, dass man auf der Suche nach einem Fehler gleich sieben auf einen Streich löst, ist oft ein frommer Wunsch; die Realität macht es unvermeidlich, bei Korrekturen neue Fehler einzuführen.

Es mag also helfen, sich mit dem Unfertigen abzufinden, nicht jedoch wie die neuwirtschaftlichen Gründer, die mit einer Mentalität von „Move fast and break things“ das Kaputte vergöttern. Donald Knuth stattete TeX und METAFONT mit Versionsnummern aus, die mit jedem Update weiter gegen Pi bzw. e konvergieren: ein Plädoyer für die inhärente Unfertigkeit von Programmen, selbst denen, die von einem der berühmtesten Informatiker der Welt geschrieben wurden. Er ließ das Ziel los, ein fehlerloses Produkt zu liefern, weil er von dessen Unmöglichkeit wusste, und setzte auf kontinuierliches, konsistentes Analysieren, Ausbessern und Lernen. Lesern, die in seinen Büchern oder Programmen Fehler fanden, schickte er Schecks, die bei den Fehlersuchern weniger die Motivation des Reichtums erzeugten, sondern die Genugtuung, einem der ganz Großen beim Reparieren geholfen zu haben, sie wurden Teil des Prozesses und damit Teil des Produkts.

Wer repariert, kontrolliert

Kintsugi ist das japanische Handwerk, zerbrochene Keramik zu reparieren. Man vermischt klebenden Lack mit Edelmetallstaub, so wird der Bruch, die Narbe, umso deutlicher. Der für immer sichtbare Reparaturprozess gibt dem Objekt eine neue Qualität. Hierzulande gibt es Kintsugi-Sets im Bastelladen, die neben Klebstoff und goldfarbenem Pulver auch einen Teller enthalten – den man zerbricht, um ihn danach zu reparieren. Für die Puristen eine Perversion der Tradition, mit menschlichem Blick gesehen eine erklärbare Reaktion auf das Leben: Wer repariert, nein, wer reparieren kann, hat die Kontrolle.

Der Grad dieser Kontrolle lässt mit steigender Ordnung der Reparatur nach, beim Teller ist sie noch real, während sie beim Reparieren des Oldtimers in der Garage und dem eigenen Körper im Fitnessstudio nach und nach zur Illusion wird. Die liebsten Reparatursubjekte vieler Menschen, Beziehungen und Familie, sind ganz und gar unkontrollierbar, den Reparier-Trieb hält die Liebe aufrecht oder die Hoffnung, das Lebendige im Zaum halten zu können.

Ähnliches – und der Sprung ist nicht so groß, wie er scheint – geschieht bei Unternehmensfusionen oder anderen großen Änderungen in Organisationen. Letzens erzählte mir eine Kundin, Personalleiterin eines gut 500 Personen umfassenden Standorts, die „Unternehmens-DNA“ sei auseinandergerissen: Der von Ingenieuren gegründete Mittelständler wurde aufgekauft, aus dem US-Headquarter wehe nun ein anderer Wind, und man müsse sich sortieren, dem Druck standhalten, die eigene DNA schützen und reparieren, was kaputt gemacht wird.

In unseren Zellen repariert die DNA sich selbst, nicht zuletzt, weil es einen definierten Zielzustand gibt: Solange die zweite Hälfte des DNA-Strangs intakt ist, kann der defekte Teil wieder hergestellt werden. Werden die Grundfesten einer Organisation durch einen Merger ge- oder zerstört, kann das Alte nicht der Zielzustand sein, die Reparatur kann nur in die Zukunft schauen.

Reparieren ist Fortschritt

In die Zukunft reparieren, das klingt so ähnlich wie: neu machen, und tatsächlich, nur das Reparieren erster Ordnung dient allein dem Erhalt, dem Verlängern der Lebensdauer, und birgt damit die einfachste Form von Nachhaltigkeit.

Jeder komplexere Reparaturprozess erfordert, sich in Beziehung zu dem zu begeben, das kaputt ist, es selbst zu verstehen und die Systeme, in die es eingebettet ist. Er erfordert, sich auseinanderzusetzen mit Unvorhersehbarem, sich zusammenzusetzen mit anderen Stakeholdern und bereit zu sein, Neues zu schaffen. Wenn der Reparaturprozess gelingt, hinterlässt er eine goldfarbene Leimspur, die dieselbe Festigkeit hat wie die umgebende Keramik. Der Prozess an sich erweitert das Kaputte und macht es neu ganz.

Bevor Badeschwämme in der Wanne landen, sind sie erstaunliche Tiere: ihre Zellen finden wieder zusammen, selbst wenn sie von Strömungen, Fressfeinden oder Forschern komplett auseinandergerissen wurden. So repariert der Schwamm sich selbst, selbst wenn er nicht mehr er selbst ist; die Schreine entstehen alle 20 Jahre neu und sind doch immer dieselben; das Reparieren ist immer ein Erkenntnisprozess, es tradiert Wissen und ist gleichzeitig kontinuierliches Einüben; die Reparatur ist geglückt, wenn das Neue vom Alten gelernt hat.

Das Doku-Repair-Café auf tekom-Jahrestagung

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Ein Mann mit Mütze repariert das Bauteil eines Computers.