Qualität beginnt zwischen den Ohren

Text: Mathias Maul

Der Mensch steht – ganz logisch, denn wer oder was auch sonst? – am Beginn jeder Wertschöpfungskette. Bei Investitionen in Qualitätsverbesserungen dieser Werte steht er aber oft am Ende. Dieser Beitrag zeigt Lösungsvorschläge, um den Weg in eine Kultur der Weiterentwicklung zu erleichtern.

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 07:36 Minuten

Die Qualität von Produkten oder Dienstleistungen korreliert direkt mit der Qualität des Denkens, Fühlens und Handelns derjenigen, die an der Entstehung beteiligt sind. Um hochqualitative Ergebnisse zu erhalten, müsste man also alles darauf setzen, deren Schöpfer zu den fähigsten Menschen zu machen, die sie werden können. Wenn ich aber Führungskräfte frage, wie viel sie in langfristige Mitarbeiterentwicklung und vor allem in die Entwicklung ihrer Persönlichkeit investieren, höre ich oft nichts außer betretenem Schweigen. Dabei kennen die meisten – und Sie, wenn Sie diesen Artikel lesen, sicher auch – diese Anekdote, die immer wieder und mit wechselnden Urhebern durch die sozialen Netzwerke geistert: „Der eine sagt: ‚Was ist, wenn wir unsere Angestellten weiterentwickeln und sie dann gehen?‘ Der andere antwortet: ‚Was ist, wenn wir sie nicht weiterentwickeln … und sie bleiben?‘“

Tja, was passiert denn dann wohl? Vermutlich das, was man täglich in hunderten Betrieben beobachten kann: Für Konzerne ist Personalentwicklung im größeren Stil selbstverständlich, oft mit umfangreichen, tatsächlich guten Programmen – aber der typische deutsche Mittelständler auf der grünen Wiese, über Jahrzehnte mit treuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gewachsen? Der merkt gar nicht, dass sie nur noch deshalb treu sind, weil es auf ebendieser grünen Wiese keine besseren Alternativen gibt.

Also, liebe Mittelständler: Kümmert euch um eure Leute. Investiert zuerst in sie, dann in den Rest. Dann wird immer auch die Qualität stimmen. Ist doch logisch. – So. Fertig. Ein gutes Schlusswort ex cathedra, Artikel zu Ende …

… aber nein, so läuft es in der Realität leider nicht. Alles bisher Gesagte liegt auf der Hand, wenigstens habe ich bisher kein schlüssiges Gegenargument gehört. Wenn diese „Soft Skills“ (die weder soft noch Skills sind) aber so wichtig sind, wieso sind die Budgets dafür so klein? „Was das alles kostet!“ Und: „Dafür haben wir doch gar keine Zeit!“ sagen viele Chefs. Oder sogar: „Die Leute können sich doch selbst weiterbilden.“ Dieser Widerstand kommt, bohrt man weiter, vor allem durch die hohen Kosten. Aber jede Investition ist zunächst eine Ausgabe. Also bohrt man weiter, bis man den eigentlichen Grund hört:

„Natürlich ist es wichtig, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiterzuentwickeln (1). Aber ich weiß doch nicht, welche Maßnahme welchen Erfolg hat! (2) Da können wir Tausende Euro in den Sand setzen, ohne zu wissen, was funktioniert (3) und was nicht. Und außerdem haben wir wirklich keine Zeit dafür. Nehmen Sie einen Manager doch mal für eine Fortbildung eine Woche (4) aus dem operativen Geschäft. Was das kostet.“

Diese typische Argumentation werde ich hier analysieren, einen der nummerierten Aspekte nach dem anderen. Wenn Sie Personalverantwortung haben, erkennen Sie sich in der Argumentation vielleicht selbst und gewinnen neue Sichtweisen, um notwendige Investitionen zu rechtfertigen. Auch wenn Sie Angestellter sind und Ihren Chef überzeugen wollen, mehr Budget in die Weiterentwicklung der wichtigsten Maschinen des Unternehmens zu investieren – die Gehirne der Mitarbeiter –, ist der Artikel vielleicht hilfreich.

Den Weg zum Lernen ebnen

Erstens war bisher jede Führungskraft, mit der ich mich unterhielt, davon überzeugt, dass es wichtig sei, dass Angestellte sich weiterentwickeln. Ausnahmslos. Viele sagten jedoch, und hier ist eine sprachliche Feinheit zu beachten, dass „die Mitarbeiter entwickelt“ werden sollen, ganz so, als könne man ihnen wie Robotern einen weiteren Arm anschrauben. Das. Geht. Nicht. Man kann Mitarbeitern maximal Chancen eröffnen, sich selbst zu entwickeln.

Das Verb entwickeln ist hier reflexiv, nicht transitiv: Trainings, Workshops, Bücher, Online-Maßnahmen und vieles mehr sind keine Schraubendreher, die jemanden verändern. Es sind vielmehr Kontexte, innerhalb derer es Mitarbeitern leichter gemacht wird, sich selbst zu entwickeln. Das einzige, das ein Mensch kontrollieren kann, sind seine Gedanken; alles andere ist außer Kontrolle. Mit „zwischen den Ohren“ im Titel sind also vornehmlich die eigenen Ohren gemeint; nicht der Raum zwischen meinem Ohr und dem meines Kollegen.

Wenn ich mit Managern rede und sie beginnen, die genannten Aspekte nachzuvollziehen, passieren zwei Dinge – je nach Person in verschieden großem Ausmaß: Zum einen entsteht mehr Unsicherheit („Aber dann weiß ich ja noch weniger, ob sich das alles lohnt oder nicht.“), zum anderen Erleichterung („Wenigstens bin ich nicht schuld, wenn’s nicht klappt.“) Beide Positionen sind jedoch selten hilfreich. Eine Lösung bringt diese Einsicht: Lernen gleich welcher Art wird möglich, wenn man aktiv Angebote schafft, die für die Mitarbeiter so attraktiv sind, dass sie sie freiwillig und idealerweise mit Freude nutzen. Und das ist, sobald man genauer darüber nachdenkt, wirklich nicht schwierig umzusetzen.

Punkt 2 ist völlig korrekt: Man kann tatsächlich nie wissen, welche Maßnahme welchen Erfolg hat. Das kann jedoch keine Blanko-Ablehnung von Entwicklungsmaßnahmen bedeuten. Denn genauso wenig kann man wissen, ob die eigens für den neuen Großkunden angeschaffte Maschine genug Ertrag abwirft. Oder ob dieser Großkunde im nächsten Jahr womöglich kein Kunde mehr ist und die Maschine mit Verlust abgestoßen werden muss. Die Investition in Weiterbildungen, damit Mitarbeiter höherqualitativ werden und höherqualitative Ergebnisse bringen können, ist weder riskanter noch sicherer, „nur“ weil es um Menschen statt Maschinen geht. Nur eines ist sie im Vergleich zur Investition in Maschinen oder Softwarelizenzen immer: Längerfristig lohnenswert, wenn es „klappt.“ Womit wir bei Punkt 3 wären.

Richtlinienkonformes Denken

Drittens nämlich ist es tatsächlich schwierig zu definieren, wann eine Fortbildung „funktioniert“, also die Qualität des Denkens, Fühlens und Handelns der Mitarbeiter verbessern hilft. Qualität ist die Beschaffenheit von Produkten oder Dienstleistungen in Relation zu definierten Vorgaben: Der Tisch soll gerade sein, die Dokumentation soll der Norm X entsprechen, der Telefonsupport soll Gespräche in weniger als Y Minuten lösen. Schreiner oder Schreiber oder QS-Beauftragte können das leicht nachmessen.

Richtlinienkonformes Denken und Fühlen, beides die Grundlage für hochqualitative Arbeit, gibt es aber nicht. Wann funktioniert eine Entwicklungsmaßnahme, wann nicht? Die Frage ist berechtigt, und die Antwort ähnlich unbefriedigend wie das Zitat von (vermutlich) Henry Ford, der gesagt haben soll: „I know that half of the money I pay for advertising works. I just don’t know which half.“ Er weiß, dass wenigstens irgendetwas funktioniert, also investiert er das Geld. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Unternehmensklima der Weiterentwicklung eine langfristige Qualitätssteigerung mit sich bringt, ist deutlich höher als die, dass Werbung langfristig wirkt. Deutlich schwieriger ist es jedoch, die kurzfristige Wirkung von Weiterentwicklungsmaßnahmen so zu messen, wie man den „Impact“ einer Werbekampagne messen kann. Da in vielen Unternehmen das schnelle Tagesgeschäft die Taktik gegenüber der Strategie betont, setzt man eher auf kurzfristige Gewinne als auf konsequente, langfristige Verbesserungen.

Diese kann man jedoch nur mit komplexen Investitionen erreichen, und deren ROI-Faktoren sind wegen der vielen Aspekte, die systemisch zusammenspielen, prinzipiell nicht exakt analysierbar. Wenn Sie sich mit diesem Teil der Realität anfreunden, können Sie durchaus noch kurzfristig taktieren – sicher eingebettet in die Unsicherheit, die das „Material“ mit sich bringt, das Sie optimieren. Keine Messgeräte, Abstandssensoren, Software oder Wuchtbänke, sondern Menschen.

Mit dem Hinweis, dass eine Kultur der Weiterentwicklung sinnvoller ist als punktuelle Maßnahmen, erledigt sich Widerstand Nummer vier von alleine: Niemand muss einen Mitarbeiter (oder gar alle) für eine Woche aus dem Geschäft nehmen, obgleich es je nach Situation im Unternehmen durchaus heilsam sein kann. Das Verbessern der Qualität der Mitarbeiter bedeutet vor allem, ihnen konstant Angebote zu machen, Situationen zu schaffen und Anreize zu geben, sich selbst weiterzuentwickeln. Wird die Weiterentwicklung zum Teil des operativen Geschäfts und als Teil der Wertschöpfung im Unternehmen wahrgenommen, muss niemand negative Folgen befürchten, wenn er sich selbst ein Update von Version 3.2 auf 3.3 gönnt.

Wachstum kostet vor allem: Zeit

Persönliche Weiterentwicklung, also das Optimieren der Qualität von Denken, Fühlen und in Folge Handeln braucht Zeit. Unser Verhalten ist von vielen, miteinander eng verwobenen Gewohnheiten bestimmt, ohne die wir die Komplexität des Lebens nicht meistern könnten. Es ist viel Zeit nötig, um Gewohnheiten zu ändern. Bis die Ergebnisse der Investitionen am Ende der Wertschöpfungskette in Form von höherer Produktqualität und Mitarbeiterbindung spürbar sind, dauert es aus Sicht mancher Verantwortlichen zu lange: „Dann können wir es auch gleich bleiben lassen.“ Die gefürchteten Gießkannenmaßnahmen sind weniger ein Ausdruck von Zynismus („besser ein Training als gar nix“), sondern eine Folge der natürlichen Zähigkeit oder, freundlicher gesagt: Verlässlichkeit des Menschen.

Zwischen den investierten Kosten und der Qualität steht demnach dasselbe wie zwischen der Qualität und den dann eingesparten Kosten: Zeit. Oder, operativ formuliert: Disziplin und Geduld. Vielleicht haben Sie vom „Marshmallow-Experiment“ gehört? Man setzt ein Kind vor einen Teller mit einem Marshmallow (in der Hoffnung, dass es Marshmallows mag) und sagt: „Ich gehe jetzt aus dem Zimmer. Du kannst ihn jetzt sofort essen oder warte ein paar Minuten, und ich komme wieder mit einem zweiten. Den bekommst du aber nur, wenn du diesen nicht aufisst, bevor ich wiederkomme.“ Delayed gratification – die Fähigkeit, im Angesicht des Guten auf Besseres hinarbeiten zu können – ist eine sehr hilfreiche Gewohnheit.

Schleichwege für Manager

Mangelt es an den Gewohnheiten Disziplin und Geduld im Unternehmen, gibt es einen einfachen Schleichweg aus dem „Wir-haben-kein-Geld-und-keine-Zeit“-Dilemma: Entscheiden Sie erstens, dass Sie eine Kultur der Weiterentwicklung etablieren wollen. Wenn Sie nicht selbst an der Spitze des Unternehmens stehen, holen Sie die Obersten ins Boot. Eine Unternehmenskultur ist nichts weiter als eine Menge von Gewohnheiten (also Taten, keine Pläne), deshalb kann sie nur langsam und schrittweise wachsen. Keine Sorge also: Die Unternehmenskultur wird nicht sofort das ganze Budget auffressen, sondern lediglich, wenn auch beständig, daran knabbern.

Zweitens: Investieren Sie konsequent über einen langen Zeitraum in kleine Schritte, beobachten Sie Veränderungen und experimentieren Sie. So verbinden Sie niedrige Kosten mit niedrigem Risiko und hohem Potenzial. Wenn die Beobachtungen der Veränderungen genau genug sind, werden die Kosten ebenso selbstverständlich – und ebenso optimierbar – wie die Stromkosten für den Serverraum. All das kann natürlich nur dann gut funktionieren, wenn die Entscheidung für einen Jahre dauernden Prozess zu einer Entwicklungskultur für ebenfalls viele Jahre feststeht.

Ein Kultur-Lackmustest

Haben Sie im Unternehmen (noch) nicht die Stellung, um die Veränderung direkt anzustoßen, hier ein einfacher Test, um festzustellen, wie es um die Weiterentwicklungskultur im Unternehmen bestellt ist.

Suchen Sie sich irgendetwas aus, von dem Sie überzeugt sind, dass es ein Update für Ihr Gehirn (Denken, Fühlen) und damit für die Qualität Ihrer Arbeit bringen kann. Nicht zu teuer, denn es ist kein Budget-, sondern ein Kulturtest. Die spontane Antwort Ihres Chefs wird viel über die gelebte Entwicklungskultur verraten, die manchmal im Kontrast zur kommunizierten Kultur steht.

Falls Sie dann hören „Sechzig Euro für ein Buch übers Meditieren? Für Ihre Freizeit müssen Sie schon selbst sorgen“, ist das ein wunderbarer Gesprächseinstieg über Qualität und Wertschöpfung. Laden Sie Ihren Chef auf einen Kaffee ein und schicken Sie ihm vorher diesen Artikel. Wenn jedoch schon ein paar Minuten nach der Buchan­frage ein Einkaufsgutschein in Ihrem Posteingang liegt, wissen Sie: Hier ist mensch­liche Qualität wirklich kostbar.

Qualität beginnt zwischen den Ohren