Wohlgefällige Gestalt

Text: Steffen-Peter Ballstaedt

Die Technische Kommunikation ist historisch in eine breite kulturelle Tradition eingebettet mit Bezügen zu Philosophie, Handwerk, Kunst und Wissenschaft. Heute: der Goldene Schnitt.

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 02:34 Minuten

Ein ästhetisches Universalgesetz

Wie wird diese herausragende Proportion definiert? Eine Strecke wird so unterteilt, dass sich der kleinere Abschnitt (a) zum größeren Abschnitt (b) wie der größere (b) zur Gesamtstrecke (a + b) verhält. Die Proportion entspricht einem Verhältnis von 0,618:1. Es gibt mehrere geometrische Möglichkeiten, diese Aufteilung zu konstruieren. Bei einem Goldenen Rechteck entspricht das Verhältnis der beiden Seiten dem Goldenen Schnitt (Abb. 01). Ein gleichschenkliges Dreieck, bei dem zwei Seiten in diesem Verhältnis zueinander stehen, wird Goldenes Dreieck genannt. Da sich diese Proportionen auch in der Natur finden, zum Beispiel bei Blättern, Kristallen und in der menschlichen Anatomie, waren viele Theoretiker der Ansicht, hier ein Universalgesetz der Schönheit gefunden zu haben.

Goldener Schnitt und Goldenes Dreieck.

Abb. 01 Streckenteilung nach dem Goldenen Schnitt. a:b = b:(a+b). Darauf aufgebaut ein Goldenes Rechteck. Diese Proportion gilt in der Ästhetik als besonders wohlgefällig. Quelle Steffen-Peter Ballstaedt

Widersprüchliche Befunde

Kann die menschliche Wahrnehmung eine derartige Proportion unbewusst erkennen und als wohlgefällig erleben? Das ist eine Frage für die empirische Ästhetik, die mit Experimenten versucht, unserem Empfinden für Schönheit nachzuspüren. Ihr Begründer Gustav Theodor Fechner hat 1860 auch die erste Untersuchung zum Goldenen Schnitt durchgeführt. Er legte seinen Studenten zehn Rechtecke mit gleichem Flächeninhalt in verschiedenen Proportionen vor und ließ sie das „wohlgefälligste“ auswählen. Tatsächlich fand er eine Bevorzugung des Goldenen Rechtecks. Der Psychologe Christopher Green führt in einem Sammelreferat 35 Nachfolgeuntersuchungen bis 1996 an [2]. Inzwischen liegen weitere Befunde vor [3].

Wie leider oft in der Psychologie ergeben sie einen Flickenteppich an widersprüchlichen Daten. Das hängt vor allem von der Methode ab, ob Proportionen beurteilt, Längen eingeteilt oder zwischen Formen gewählt werden muss. Auch Fechners Experiment wurde noch einmal sorgfältig repliziert, aber die Ergebnisse fielen völlig anders aus: Hier wurde das Quadrat bevorzugt, also eine Proportion von 1:1 [3]. Vielleicht lassen sich Fechners Befunde damit erklären, dass seine Versuchspersonen Mitglieder des Leipziger Kunstvereins waren, die die Bedeutung des Goldenen Schnitts kannten.

Nur grobe Annäherung

Eine Bevorzugung des Goldenen Schnitts kann also empirisch nicht bestätigt werden, aber über viele Untersuchungen hinweg ein Präferenzmaximum der Proportion 0,66:1. Das entspricht etwa dem einfachen Teilungsverhältnis von 2:3. Vielleicht ist die Bevorzugung des Goldenen Schnitts einfach eine Bevorzugung dieser Proportion.

Dazu passt, dass viele praktische Anwendungen gar nicht die präzisen Proportionen berechnen. Zum Beispiel wird in jeder Fotoschule empfohlen, die Bildfläche in der Breite und in der Höhe nach dem goldenen Schnitt einzuteilen und ein Linienraster anzulegen, an dem sich die Positionierung von Motiven ausrichtet. Praktisch arbeitet man aber mit der Drittel-Regel: Die Breite und die Höhe werden im Verhältnis 1:2 aufgeteilt. Vermutlich haben wir eine Vorliebe für einfache Proportionen, und der Goldene Schnitt ist nur eine Annäherung an Proportion.

Wahrscheinlich ist die Fibonacci-Zahlenreihe eine bessere Grundlage für unsere ästhetischen Urteile: Ausgehend von 0 und 1 wird die nächste Zahl als Summe der vorangehenden ermittelt. Das ergibt die Reihe 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 … Die Verhältnisse zweier aufeinanderfolgender Zahlen entsprechen annähernd dem Goldenen Schnitt. Schöne Proportionen wären hier 1:1, 1:2, 2:3, 3:5 … Damit wäre der Goldene Schnitt in seiner mathematischen Präzision entthront [3].

Literatur zum Beitrag

[1] Kugler, Liselotte/Götze, Oliver (Hrsg.) (2016): Göttlich Golden Genial Weltformel Goldener Schnitt? München: Hirmer.

[2] Green, Christopher (1995): All that glitters: a review of psychological research on the aesthetics of the golden section. Perception, 24, S. 937–968.

[3] Höge, Holger (1997): The Golden section hypothesis – its last funeral. Empirical studies of the Arts, 15, S. 233–255.

Beitrag über den Goldenen Schnitt.