Das Thema Industrie 4.0 umfassend zu verstehen und umzusetzen, ist nach wie vor eine Herausforderung für Unternehmen. Industrie 4.0 ist ein Sammelbegriff für viele verschiedene Technologien mit unterschiedlichen Einsatzbereichen, die je nach Anwendungsbereich Vor- und Nachteile haben und sich teilweise gegenseitig beeinflussen. Insgesamt geht es also bei der Einführung von Industrie 4.0 darum, eine weitreichende Entscheidung mit vielen Variablen treffen zu müssen. Um Unternehmen bei dieser Herausforderung unterstützen zu können und diese Komplexität abzubilden, wurde an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in einem interdisziplinären Projekt ein so genanntes Serious Game entwickelt. Der Spaßfaktor kommt dabei nicht zu kurz.
Mit Informationsdesign verbinden
Im Bachelorstudiengang Mehrsprachige Kommunikation mit der Vertiefung Fachkommunikation und Informationsdesign an der ZHAW Angewandte Linguistik konnten die Studierenden im Kurs „Projekt in der Technischen Dokumentation“ zeigen, was sie draufhaben. Der Kurs findet im 6. Semester statt und verbindet Theorie und Praxis aus verschiedenen Bereichen des bisherigen Studiums. So können die Studierenden direkt anwenden, was sie bisher gelernt haben.
Diesmal kam der Projektauftrag vom Institut für Mechatronische Systeme an der School of Engineering (IMS). Die Kolleginnen und Kollegen waren dabei, ein Serious Game zu entwickeln, das zukünftig für Unternehmen als Beratungstool eingesetzt werden kann. Mit dem Ziel, dass die Unternehmen Know-how gewinnen und Entscheidungen für den Einsatz von neuen Technologien im Bereich Industrie 4.0 treffen können. Die Entwicklung einer Software war dabei die kleinste Herausforderung, denn vor allem die Definition der Technologien (inklusive der Terminologie), deren Metriken und Relevanz für das Spiel und letztlich ein Konzept für das Spiel selbst bereitete den Mitarbeitenden am Institut Kopfzerbrechen. Warum also nicht Technik und Informationsdesign verbinden und die Stärken von beiden Departementen nutzen, um eine neue Lösung zu entwickeln? So kam die Zusammenarbeit zustande, für beide Seiten eine gewinnbringende Entscheidung.
Der Grundgedanke dahinter
Mit dem Ziel, Digitalisierung voranzutreiben und Industrie 4.0 zu implementieren, kommen viele Unternehmen zum Institut für Mechatronische Systeme und suchen Hilfe für unterschiedlichste Fragestellungen. Nicht selten lautet die Frage nur: „Wo kann ich denn jetzt Industrie 4.0 kaufen?“ Bei den Beratungsgesprächen stellt sich meist heraus, dass man schon tiefere Kenntnisse benötigt und es nicht ganz trivial ist zu entscheiden, welche Technologien im konkreten Fall benötigt werden und welche nicht. Kenntnisse über das Set an Technologien und detailliertes Wissen zu den einzelnen Technologien sind aber auch heute noch sehr vage, über zehn Jahre nach dem ersten Aufkommen des Begriffs Industrie 4.0. Das Wunschdenken, dass man eine Komplettlösung für Industrie 4.0 einfach kauft und einsetzt, ist verständlich, ist aber letztlich unrealistisch. Denn was die Realität betrifft, gibt es viele unterschiedliche Technologien wie Augmented Reality, Digitaler Zwilling, Cobots (Roboter), Clouds, KI und viele mehr, die je nach Zweck und Unternehmensgröße eingesetzt werden können. So kamen Zaniyar Jahany und seine Kollegen vom IMS auf die Idee, ein Serious Game zu entwickeln. Es könnte als Beratungstool für Unternehmen dienen, um sich spielerisch mit den Technologien zu Industrie 4.0 auseinandersetzen zu können. Dieses Spiel könnte etwa bei Workshops in Unternehmen verwendet werden, um den Mitarbeitenden Industrie 4.0 näher zu bringen.
Der Auftrag für das Projekt
Die Studierenden der Vertiefung Fachkommunikation und Informationsdesign (FID) sollten ein Konzept für das Serious Game entwickeln, bei dem Spielkarten und Augmented Reality (AR, erweiterte Realität durch Überlagerung zusätzlicher digitaler Informationen ins Sichtfeld) das wesentliche Spielmaterial darstellten. Es sollte mit Hilfe einer Smartphone-App oder einer VR-Brille zum Anzeigen der AR-Inhalte spielbar sein. Ziel des Spiels sollte es sein, den Spielteilnehmenden Wissen über Industrie 4.0 zu vermitteln. Außerdem sollte es aufzeigen, welche Technologien für das entsprechende Unternehmen Vorteile oder Nachteile bringen können und wie sich verschiedene Technologien gegenseitig beeinflussen. Selbstverständlich sollte das Spiel auch Spaß machen.
Metriken und Ereigniskarten
In diesem Serious Game gibt es insgesamt 16 verschiedene Technologien. Das sind lange nicht alle verfügbaren Technologien, sie stellen aber einen guten Ausgangspunkt dar. Virtual und Augmented Reality, Cybersecurity, E-Commerce oder Blockchain gehören sicherlich zu den bekannteren. Cobot oder Predictive Maintenance sind sicherlich weniger bekannt. Auf einer Technologiekarte ist die jeweilige Technologie genannt. Zusätzlich stehen Punkte für Kosten, Produktivität, Ansehen und Sicherheit darauf (Metriken). Ein QR-Code lässt die Spielenden die Karte scannen, und mit Augmented Reality werden eine 3D-Darstellung und weitere Informationen zu der Technologie verfügbar gemacht (Abb. 01). Das hilft, die verschiedenen Möglichkeiten kennenzulernen und vermittelt so ganz nebenbei weiteres Wissen.
Abb. 01 Technologiekarten mit Metriken und QR-Code zum Aufruf in der App. Quelle Birgit Fuhrmann, Cristina Arioli und Zaniyar Jahany
Die Metriken in Abbildung 01 bestehen aus Produktivität, Sicherheit, Ansehen und Kosten. Sie dienen dazu, die einzelnen Technologien zu bewerten. Die Produktivität gibt an, inwieweit die verwendete Technologie bei optimalem Einsatz in der Lage ist, den Output zu erhöhen. Die Produktivität ist eine enorm wichtige Kennzahl für Unternehmen. Sie zeigt, ob das Verhältnis zwischen dem, was erreicht werden soll, und den dafür eingesetzten Produktionsmitteln (Menschen, Maschinen, Material) gut oder weniger gut ist. So kann der aktuelle Stand mit dem Einsatz neuer Strategien und Technologien verglichen werden, und es ergibt sich direkt eine Aussage über den Nutzen, den die neue Technologie bringt.
Sicherheit ist vor allem für den Schutz vor Cyberangriffen gedacht, den der Einsatz der Technologie mit sich bringen kann oder eben auch nicht. Viele neue Technologien erfordern zusätzliche Maßnahmen für den Schutz vor solchen Angriffen. Daher ist es wichtig, dies als Metrik miteinzubeziehen. Das Ansehen beschreibt das Image der Firma, das mit dem Einsatz einer Technologie gesteigert werden kann, da bestimmte Technologien helfen, dass sich Unternehmen als innovative Marktplayer positionieren können. Zuletzt die Kosten, die natürlich unternehmerisch gesehen immer relevant sind, denn die Anschaffung und Implementierung neuer Technologien erfordert Aufwände und hat meist auch übergreifende Auswirkungen innerhalb des Unternehmens, etwa auf prozessualer Ebene. Die Kosten sind definiert als der Gewinn minus Anschaffungskosten und laufende Kosten.
Zusätzlich gibt es noch Ereigniskarten (Abb. 02), die das Spiel spannender gestalten sollen. Je nach Karte können die Teams die eigene Fabrik verbessern, damit Konkurrenten überholen oder, wenn man die Technologie schlecht einsetzt und viel Geld dafür investiert, auch dem eigenen Unternehmen schaden. „Die Ereigniskarten finde ich besonders gut gelungen“, meint Cristina Arioli. Sie ist eine der Studierenden, die sich gemeinsam in einem Brainstorming viele Szenarien ausgedacht haben. Anschließend haben sie die Karten in drei Kategorien eingeteilt: gute Karten, schlechte Karten und Angriffskarten.
Abb. 02 Ereigniskarten bestehend aus guten, schlechten und Angriffskarten. Quelle Birgit Fuhrmann, Cristina Arioli und Zaniyar Jahany
Ein Beispiel für eine gute Karte ist der Schutzengel. Mit dieser Karte können Cyberangriffe durch Hacker oder andere Unternehmen abgewehrt werden. Eine schlechte Karte kann zum Beispiel ein neuer CEO sein, der die Firma ohne Industrie 4.0-Know-how umkrempelt. Das bedeutet, man muss alle gewählten Technologien gegen die weggeworfenen tauschen. Bei der Angriffskarte kann man beispielsweise die Sabotage verwenden. Das heißt, das Unternehmen setzt auf neue Technologien und versucht, den Konkurrenten Marktanteile wegzunehmen.
Endprodukt „Serious Game“
„Wir haben ein Kartenspiel entwickelt, das zusammen mit einem Smartphone gespielt werden kann“, sagt Cristina Arioli. Das Spiel ist mit bis zu vier Teams spielbar. Es wird mit Hilfe der App vorbereitet und gestartet: Die Teams wählen einen Teamnamen und ihre Startfabrik aus – eine von drei vorgefertigten Startfabriken. Die Fabriken enthalten unterschiedliche Technologien, die dann während des Spiels optimal ergänzt werden sollen. Jedes Team bekommt ein Set von 16 Technologiekarten. Davon müssen zu Beginn die zwei Technologien der Startfabrik entnommen werden. Die restlichen Technologiekarten werden gemischt und als Stapel griffbereit zur Seite auf das Spielfeld gelegt (Abb. 03). Die App wählt das Startteam zufällig aus. Der Ereigniskartenstapel wird in der Mitte platziert – und es kann losgehen.
Abb. 03 Das Spielfeld, auf dem die Teams ihre Karten ablegen. Quelle Birgit Fuhrmann, Cristina Arioli und Zaniyar Jahany
In der ersten Runde ziehen die Teams abwechselnd nur zwei Ereigniskarten und spielen diese. Danach wird in jeder Runde beides gezogen: jeweils zwei Technologien und zwei Ereigniskarten. Nun muss sich das Team immer für eine der beiden neuen Technologien entscheiden, die zweite wird weggeworfen und kann nicht mehr zurückgeholt werden. Das Spiel endet nach acht Runden. Das Team mit der besten Technologiekombination gewinnt das Spiel. Wie es in der Spielanleitung steht: „Ihr gewinnt das Spiel, wenn ihr eure Kosten tief haltet und wenn ihr Sicherheit und Produktivität erhöhen könnt und euer Ansehen steigert.“
Die Auswertung erfolgt automatisch durch die App. Diese wird mithilfe der Metriken (Kosten, Sicherheit, Produktivität und Ansehen), der Zusammenhänge sowie den Ereigniskarten berechnet. Mit den Zusammenhängen ist gemeint, dass nicht alle Technologien gut miteinander harmonieren und einige Technologien nicht ohne eine andere funktionieren können. Wenn die Ereigniskarten richtig eingesetzt wurden, geben sie der Fabrik zusätzliche Punkte.
Zusammenarbeit im Projekt
„Es gab definitiv anfängliche Schwierigkeiten, da uns nicht genau klar war, was von uns erwartet wurde“, sagt Cristina Arioli. Gleichzeitig gab es anfangs bei Auftraggebern und Projektteam gegenseitig unklare Erwartungen. Daher ist es einer der ersten Schritte des Projektmanagements, die gegenseitigen Erwartungen zu klären. In diesem Fall haben die Studierenden einfach losgelegt und das gemacht, was sie für richtig hielten. Diese Vorgehensweise hat für alle Beteiligten dann gut gepasst. Dazu Cristina Arioli: „Mit den richtigen Fragen erhielten wir auch das benötigte Wissen von unseren Auftraggebern.“ Es war definitiv ein kleiner Einblick, wie wir später arbeiten.
Am Ende der Projektarbeit stellten die Studierenden das Ergebnis bei ihren Auftraggebern vor. Zaniyar Jahany, einer der Auftraggeber des IMS, meint: „Wir haben es auch versucht, ein spannendes und unterhaltsames Spielkonzept aufzustellen, aber leider sind wir als Ingenieure damit nicht weit gekommen. Glücklicherweise habt ihr uns mit eurem Fachwissen und eurem großartigen Konzept unterstützt, welches uns ermöglicht, das Spiel endlich umzusetzen.“ Alles in allem ein gelungenes Projekt, denn es war ein Gewinn für alle Beteiligten und hat gezeigt, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit einen Mehrwert bringt. Der Spaßfaktor hat selbstverständlich auch bei der Zusammenarbeit nicht gefehlt.
Literatur
Arioli, Cristina et. al (2022): Serious Game. Industrie 4.0. Abschlusspräsentation des Projekts. Im Kurs: Projekt in der Technischen Dokumentation.
Arioli, Cristina et. al (2022): Serious Game. Industrie 4.0 – Spielanleitung. Im Kurs: Projekt in der Technischen Dokumentation.
Studieren an der ZHAW |
In der Vertiefung „Fachkommunikation und Informationsdesign“ (ehemals: Technikkommunikation) spezialisieren sich die Studierenden auf das Informationsdesign in der digitalisierten Arbeitswelt, auf optimierte Usability und darauf, wie komplexe Fachinhalte für verschiedene Zielgruppen und Medien aufbereitet werden. www.zhaw.ch/de/linguistik/studium/bachelor-mehrsprachige-kommunikation/vertiefungen/fachkommunikation-und-informationsdesign |