Vom großen Ganzen und kleinen Teilen

Text: Markus Nickl

Im Deutschen lassen sich nahezu beliebig lange Sätze formulieren. Umso schwieriger wird es, die Satzteile zu erkennen, die zusammengehören, und damit den Sinn des ganzen Satzes. Welche Orientierungshilfe bietet die Grammatik?

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 05:54 Minuten

Mit dem Verb bzw. den Verben als Anker im Satz haben wir nun eine feste Struktur, mit der wir leichter einordnen können, was sich sonst noch so in syntaktischer Hinsicht tut. Denn nur mit Verben allein können wir so gut wie keinen Satz bilden. Doch wie findet man heraus, welche Elemente in einem Satz einen Satzteil und letztlich eine bestimmte Aussage ergeben?

Zonen im Satz

Die Stellung eines Verbs im Satz lässt sich gut vorhersagen. In Aussagesätzen steht auf jeden Fall an der zweiten Position ein Verb. Bei komplexeren Verbbildungen wie Modalverben oder Hilfsverben befindet sich außerdem am Ende des Satzes noch mindestens ein Verb. Danach können allerdings weitere Teilsätze kommen, zum Beispiel Nebensätze oder Infinitivgruppen. Abbildung 01 zeigt die einzelnen Satzfelder.

Quelle Markus Nickl
Abb. 01 Satzfelder in deutschen Aussagesätzen. Quelle Markus Nickl

Jenseits des Verbs

Nun kann ein Satz ja fast beliebig lang werden. Die gehobene Literatur bietet schöne Beispiele dafür. Wer möchte, kann sich dazu gerne den „Tod des Vergil“ von Hermann Broch anschauen. Eine beliebige Länge heißt, dass ein Satz neben den Verben viele weitere Teile haben kann. Wie lässt sich diese Vielfalt ordnen?

Es ist offensichtlich, dass die verschiedenen Wörter in den Sätzen nicht unverbunden zusammenstehen. Vielmehr gehören sie teilweise zusammen. Sehen wir uns einmal einen einfachen Beispielsatz an:

  • „Kriechende Dämpfe können auch in größerer Entfernung zur Entzündung führen.“

Beim Blick auf die Wörter des Satzes fällt auf, dass manche enger miteinander verbunden sind als andere. „Kriechende Dämpfe“, „in größerer Entfernung“ und „zur Entzündung“ gehören auf jeden Fall zusammen. Doch was ist mit dem „auch“? Steht dieses Wort für sich alleine oder nicht? Im Zweifelsfall entscheidet man durch die so genannte Verschiebeprobe, ob etwas zusammengehört.

„Zur Entzündung können kriechende Dämpfe auch in größerer Entfernung führen.“ Die Variante verändert nichts Wesentliches an der Satzaussage. Das gilt allerdings nicht für den Fall, dass wir „auch“ als eigenständige Einheit betrachten: „Auch können kriechende Dämpfe in größerer Entfernung zur Entzündung führen.“ Hier verändert sich der Satzinhalt. Es geht nun nicht mehr um die Entfernung, sondern ganz allgemein darum, dass „kriechende Dämpfe“ eine Auswirkung haben können. Die Verschiebeprobe zeigt also, dass „auch in größerer Entfernung“ zusammengehört. Bei diesem Beispiel lässt sich das Ergebnis noch mit etwas Sprachgefühl intuitiv vorhersagen. Die verschiebbaren Einheiten können aber fast beliebig groß werden und man kann durchaus die Übersicht verlieren: „auch in größerer Entfernung zum vorgeschriebenen und überwachten Austrittspunkt des Gefahrstoffs“ wäre zum Beispiel immer noch eine einzelne Einheit, die sich nur als Ganzes verschieben lässt.

Von Notwendigem und Optionalem

Will man nun die gefundenen Satzteile „kriechende Dämpfe“, „auch in größerer Entfernung“ und „zur Entzündung“ genauer charakterisieren, so fällt zunächst einmal auf, dass sie nicht in gleicher Weise notwendig sind. Ein Satzteil ist verzichtbar, die beiden anderen können dagegen nicht weggelassen werden. Dann wäre der Satz nicht grammatisch:

sad In größerer Entfernung können […] auch zur Entzündung führen.

sad Kriechende Dämpfe können auch in größerer Entfernung […] führen.

smiley Kriechende Dämpfe können […] zur Entzündung führen.

Zwischen den beiden Arten von Satzteilen besteht also ein wesensmäßiger Unterschied. Während die ersten beiden durch das Verb gefordert sind, um den Satz vollständig zu machen, bringt „in größerer Entfernung“ lediglich einen zusätzlichen – und in diesem Fall auch wichtigen – Bedeutungs­aspekt hinzu. Aber auch ohne diesen Satzteil wäre der Satz vollständig. Der Satzteil ist also nicht notwendig.

Um die Bedeutung von Satzteilen klarer darzustellen, bezeichnen wir notwendige Teile als „Ergänzungen“ und optionale Teile als „Angaben“. Meistens sind Ergänzungen durch einen bestimmten Kasus gekennzeichnet wie Nominativ, Dativ, Akkusativ und gelegentlich auch Genitiv. Außerdem gibt es notwendige Ergänzungen, die durch eine Präposition eingeleitet werden, die dann wiederum einen bestimmten Kasus fordert. In diesem Beispiel besteht der Satz aus einer Nominativ-Ergänzung („kriechende Dämpfe“) und einer Präpositionalergänzung („zur Entzündung“).

Angaben lassen sich nach den Bedeutungsaspekten unterteilen, die sie zusätzlich in den Satz einbringen. Im Wesentlichen sind das zeitliche Bedeutungen (Temporalangaben) und räumliche (Lokalangaben) sowie Spezifizierungen der Art und Weise (Modalangaben). In unserem Satz finden wir eine Lokalangabe („auch in größerer Entfernung“).

Was hilft das nun?

Zum Abschluss dieses Beitrags möchte ich ansehen, wie die Identifizierung von Ergänzungen und Angaben bei der Redaktionsarbeit wirkt. Dazu ein Blick in die tekom-Leitlinie Regelbasiertes Schreiben, Deutsch für die Technische Kommunikation: Unter der Nummer S 301 findet sich die Regel „Häufung von Nominalphrasen vermeiden“. Die Regel nennt allerdings kein Kriterium, mit dem eine Technische Redakteurin oder ein Redakteur erkennen kann, ob Nominalphrasen in einem Satz häufiger auftreten. Auch die Begriffserklärung im Glossar hilft nur bedingt weiter: „Eine Wortgruppe, die aus einem Nomen und einer oder mehreren Erweiterungen besteht.“ Aber wie lässt sich erkennen, was eine Wortgruppe ist? Und was ist als Erweiterung einzuschätzen? Das ist gar nicht so einfach zu beantworten und noch schwieriger an andere zu vermitteln.

Wie kann man also pragmatisch mit der Regel umgehen? Zum Glück brauchen wir hier gar nicht so sehr in die Tiefe zu gehen. Denn mit der Verschiebeprobe lässt sich relativ leicht erkennen, was ein Satzteil ist. Und wenn sich nur sehr große Einheiten (gemeinsam) verschieben lassen, dann ist der Fall eingetreten, den Regel S 301 beschreibt.

Literatur zum Beitrag

Granzow-Emden, Matthias (2013): Deutsche Grammatik verstehen und unterrichten. Tübingen, S. 63; Beispiel und Visualisierung von Markus Nickl.

Ihre Frage zur Grammatik

Vielen Dank für Ihre Fragen zum Thema Grammatik. Schicken Sie uns gerne weitere Fragen: markus.nickl@doctima.de. Wir beantworten sie dann in einer der nächsten Ausgaben.

Julia Kroll fragt:
Sehr geehrter Herr Nickl,
soeben habe ich - wie in jeder Ausgabe ‚technische kommunikation‘ - interessiert Ihren Beitrag zum Thema Sprache durchgelesen. Ihrem Aufruf am Ende, Leser könnten Themen vorschlagen, möchte ich gerne nachkommen.

Ein bestimmtes grammatikalisches Problem taucht immer wieder auf und ich korrigiere diese Stellen jeweils nach Gefühl. Das Problem ist allerdings, dass ich meinen Kollegen den Grund (die Regel dahinter) nicht erklären kann.

Beispiel:
„Zu beobachten ist der Wandel eines Lieferanten mit hohem proprietärem Hardware-Anteil zu einem Lieferanten für Standardkomponenten.“

  • Da man auch schreiben könnte „mit einem hohen proprietären …“ habe ich die zweite Endung auf „m“ geändert in eine Endung auf „n“ („mit hohem proprietären“).
  • Im Internet habe ich zwar Beispiele gefunden, die mein Gefühl bekräftigen, aber keine zitierbare Sprachregel als „Rechtfertigung“ bei Nachfragen.

Meinem Sprachgefühl zufolge könnte eine zweite Endung auf „m“ nur bei einer Aufzählung von Adjektiven verwendet werden. Beispielsweise hier: „Als Unternehmen profitieren wir von stabilem, vorhersehbarem, massivem Wachstum.“

Markus Nickl antwortet:
Diese Frage wird in der einen oder anderen Form immer wieder gestellt. Und auch wenn es erst einmal komisch klingt: Beide Formen werden von Grammatikern grundsätzlich als richtig betrachtet. Wie also damit umgehen?

Zu dem Fall habe ich nach Literatur recherchiert und bin auf Seite 501 in meiner alten Ausgabe der Grammatik
von Peter Eisenberg (1989) fündig geworden. Er argumentiert ähnlich wie Sie mit der Hierarchiebeziehung zwischen den beiden Adjektiven. Die Beziehung zeigt sich (neben der Kommasetzung, die Sie ganz richtig ansprechen) auch dadurch, dass die Reihenfolge der Adjektive in Ihrem Beispiel nicht beliebig ist: „Mit proprietärem hohem Hardware-Anteil“ bedeutet etwas anderes.

In diesem Sinn ist Ihre Entscheidung die präzisere und damit genau die Richtige für die Technische Dokumentation.

 

Grammatik in der Technischen Redaktion