Wie leicht haben es doch die Dänen, wo sich fast alle Duzen. Oder die Engländer, die sich immer Siezen. Wir Deutschen haben dagegen die Qual der Wahl: „Du“ oder „Sie“? Nur wenige sprachliche Entscheidungen verursachen so viele Kopfschmerzen wie die Frage nach der richtigen Anrede.
Die gesellschaftliche Entwicklung
Ganz allgemein lässt sich feststellen, dass die Anrede mit „Du“ im sprachlichen Trend liegt. Intern gehen immer mehr Unternehmen zum Du über. Meist gilt das nur für Kollegen und Kolleginnen, zunehmend häufiger aber auch über die Hierarchiestufen hinweg.
Ganz persönlich bin ich froh, dass das „Du“ im Geschäftsleben in den letzten Jahren normaler geworden ist. Es erleichtert den Umgang miteinander und führt schneller zu Ergebnissen. Manche befürchten ja, dass beim Du ein Streit leichter eskaliert. Aber das ist hauptsächlich eine Sache des wertschätzenden Umgangs. Meinem Eindruck nach kann auch mit „Sie“ ein Streit schnell aus den Fugen geraten, wenn die Kultur in einem Unternehmen nicht stimmt.
Auf persönlicher Ebene lässt sich die Frage nach Du oder Sie einigermaßen leicht aushandeln. Oft gibt schon die Situation vor, ob gesiezt oder geduzt wird. Auf einer lockeren Party, bei der sich die meisten duzen, werden auch neue Bekannte sofort geduzt; beim festlichen Empfang ist dagegen das Sie die Norm. Viele Menschen erleichtern anderen auch die Entscheidung, indem sie etwa in ihrer E-Mail-Signaturen oder in Social-Media-Profilen ein Signal zur gewünschten Anrede hinterlegen, etwa mit dem Hashtag #gerneperdu.
Einen Standard etablieren
Schwieriger ist die Sache mit der Anrede, wenn ein allgemeiner Standard festgelegt werden soll; wenn man sich also aus dem individuellen Gespräch in die Massenkommunikation bewegt. Diese Frage müssen wir auch in der Technischen Redaktion klären, und die Antwort darauf gehört in jeden Redaktionsleitfaden. Wie sollte eine Redaktion dabei vorgehen?
Dazu muss man trotz des Trends zum Du in Sachen Anrede zunächst einmal festhalten: Der Standard ist unter Fremden auch weiterhin die Anrede mit Sie. Das hat neben kulturellen Gründen auch eine Ursache in der Verhaltensbiologie. Als Menschen sind wir Wesen, die in kleinen Gruppen bis 30 Mitglieder zusammenleben. Das Sie dient hierbei ebenso als Mittel zur Abgrenzung sowie als Höflichkeitsformel. Es dient also gleichzeitig zur Abgrenzung und zur Deeskalation.
Mit dem Sie macht man im Zweifelsfall nichts Grundsätzliches verkehrt. Verwendet man ein Sie, wo das Gegenüber ein Du erwartet hätte, dann wirkt man vielleicht distanziert und abweisend. Aber wirklich übel nehmen wird das niemand. Ein falsch verwendetes Du kann aber durchaus zu Irritationen führen, ja sogar als Anmaßung oder Frechheit empfunden werden. Das Eskalationspotenzial ist beim Du trotz des sprachlichen Trends weiterhin deutlich höher, und das wird auch so bleiben, solange wir zwei verbreitete Anredeformen nutzen.
Die Kriterien für die richtige Anrede
Auch wenn das Schadenspotenzial beim Siezen geringer ist: Wer möchte schon gerne distanziert und abweisend wirken? Im Sinne einer vernünftigen Zielgruppenanalyse gilt es für die Entscheidung zum Du deshalb, mehrere Aspekte zu betrachten. Die Klärung dieser Frage gehört zur Zielgruppenarbeit und lässt sich mit den Methoden abdecken, wie sie die Norm DIN EN 82079-1 skizziert. [1]
Wenn es um das Du geht, dann ist das Kriterium, das den meisten als Erstes einfällt, sicher das Alter der Zielgruppe. Allerdings ist die Gleichung „Junge Zielgruppe bedeutet automatisch Du“ zu kurz gegriffen. Denn Jüngere duzen zwar häufiger. Allerdings heißt das nicht, dass sie in jeder Situation und von allen geduzt werden möchten. Duzen ist für sie vielleicht am Arbeitsplatz oder im Café erwünscht. In anderen Kontexten – in der Kommunikation mit einer Behörde oder einer Bank – betrachten es Jüngere aber als herablassend oder anbiedernd.
Der Kontext ist als weiterer Aspekt wichtig. Dies trifft auch auf die Technische Dokumentation zu. Eine Zielgruppe, die in der Produktschulung gerne geduzt wird, muss deshalb noch lange nicht von Installationsanleitungen begeistert sein, die zum Du greifen. Gespräch und direkter Kontakt in der Schulung erzeugen hier eine Nähe, die in der Anleitung nicht nachbildbar ist. Generell gilt: In den Kontexten Sport, Freizeit, Mode und Design ist das Du akzeptierter als zum Beispiel in den Kontexten Technik, Forschung oder Finanzen.
Auch ein Aspekt ist das Unternehmensimage. Das typische Beispiel ist IKEA, wo automatisch alle geduzt werden. Das funktioniert dort allerdings nur, weil im Bewusstsein der Kunden und Kundinnen sehr stark verankert ist, dass IKEA ein schwedisches Unternehmen ist und man sich in Schweden im Allgemeinen duzt. Es reicht also nicht allein aus, ein skandinavisches Unternehmen zu sein, um für eine höhere Akzeptanz des Du zu sorgen. Die Kunden und Kundinnen müssen auch präsent haben, dass das Unternehmen aus Skandinavien kommt, und das Du muss auch zur restlichen Kommunikation des Unternehmens passen. Nichts ist hier unangenehmer als ein Stilbruch, wenn zum Beispiel Stellenausschreibungen zum Du greifen, in der Bewerbungsphase dann aber gesiezt wird.
Und dies bringt uns zum letzten Aspekt bei der Entscheidung für oder gegen das Du: Eine Technische Redaktion sollte nie alleine entscheiden. Es gibt viele Kontaktpunkte zu den Kunden und Kundinnen, und die Technische Dokumentation ist nur einer davon. Im Interesse einer einheitlichen CI und eines durchgängigen Corporate Wordings sollten Sie deshalb die Frage nach der Anrede immer in Abstimmung mit anderen Abteilungen treffen, allen voran dem Marketing. Umgekehrt sollte eine Technische Redaktion auch im Hinterkopf behalten, dass die Leser und Leserinnen von Anleitungen nicht automatisch die Nutzer und Nutzerinnen der Produkte sind. Es kann im Einzelfall deshalb durchaus in Ordnung sein, zu einer anderen Anrede zu greifen, als dies etwa das Marketing tut.
Es gibt bei der richtigen Anrede also nicht die eine, für alle richtige Antwort. Situation, Zielgruppe und gewünschter Effekt sind weitere Einflussfaktoren. Wichtig ist nur, dass eine Technische Redaktion eine differenzierte Entscheidung auf der Basis von Zielgruppenkenntnis und Nutzungsanalyse trifft.
Literatur
[1] Schmeling, Roland/von der Stück, Mareike (2022): Grundsätzliches zur Zielgruppe. In: technische kommunikation. H. 2, S. 37–42.