Auf die Vollständigkeit kommt es an

Text: Tilo Ried

Stärken und Schwächen zu analysieren, ist eine einfache Methode, um den Stand einer Technischen Redaktion zu ermitteln. Aus den Erkenntnissen lassen sich die richtigen Maßnahmen ableiten, um die Redaktion im Unternehmen zu stärken. Hört sich gut an, hat aber seine Tücken. Welche sind das?

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 08:20 Minuten

Um geeignete Maßnahmen zur Erreichung strategischer Ziele festlegen zu können, ist es notwendig, die Ist-Situation genau zu verstehen [1]. Geeignete Maßnahmen bedeuten, dass die entscheidungs- und maßnahmenrelevanten Eigenschaften der Ist-Situation vollständig erkannt, berücksichtigt und im Hinblick auf definierte Ziele bewertet werden. Letztlich bedeutet das, die Frage „wo stehen wir heute?“ sicher zu beantworten.

Im strategischen Arbeitsprozess steht die Bewertung der Ausgangssituation meist an erster Stelle. Eine bekannte Methode ist die Analyse der unternehmenseigenen Stärken und Schwächen. Sie stammt aus der frühen Phase der Strategiearbeit. Wie diese Methode innerhalb eines überschaubaren Unternehmensbereichs, in diesem Fall der Technischen Redaktion, mit Gewinn angewendet wird, untersucht dieser Beitrag.

Vergleich zu Mitbewerbern

Als Teil der Strategiearbeit im Gesamtunternehmen ist die Stärken-Schwächen-Analyse eine seit vielen Jahren bekannte Methode. Sie räumt der Position von Mitbewerbern eine zentrale Rolle ein [2]. Dabei werden Faktoren wie finanzielle Ressourcen, technologische Fähigkeiten oder Innovationsfähigkeit als entscheidend für den Markterfolg des Gesamtunternehmens angesehen. Die Faktoren werden im Vergleich zu ausgewählten Mitbewerbern oder einer ganzen Branche analysiert und bewertet.

Damit gehört die Stärken-Schwächen-Analyse zum typischen Inventar der Design School der Strategiearbeit. Die Design School sieht vor, dass die richtige Strategie in der Auseinandersetzung zwischen den unternehmensinternen Fähigkeiten und den Herausforderungen von außen erarbeitet wird. Interne und externe Bereiche müssen dafür analysiert und bewertet werden. Durch den Anspruch der Design School, die Strategiearbeit als durchdachten und strukturierten Prozess zu entwickeln, bietet sich die Stärken-Schwächen-Analyse besonders für eine regelmäßige Wiederholung des Prozesses an [3]. Abbildung 1 stellt eine Stärken-Schwächen-Analyse mit typischen Erfolgsfaktoren dar.

Stärken-Schwächen-Analyse

Abb. 01 Bewertungskategorien einer unternehmensweiten Stärken-Schwächen-Analyse. Sie stellen im Wettbewerb mit der Konkurrenz Erfolgsfaktoren dar. Quelle Tilo Ried

Die Herleitung und Aufbereitung der Daten einer Stärken-Schwächen-Analyse orientiert sich am Semantischen Differential. Charles Osgood hat es für die Psychologie entwickelt, um zum Beispiel gegensätzliche Meinungen bewerten zu können [4]. So lässt sich mit dem Modell beispielsweise die Frage nach der persönlichen Befindlichkeit auf einer Skala zwischen -3 (sehr schlecht) und 3 (sehr gut) beantworten. Die Bewertungskategorie für die persönliche Befindlichkeit erhält eine Skala für Werte oberhalb und unterhalb einer neutralen Mitte (0) – Abbildung 2.

Von "schlecht" bis "sehr gut"

Abb. 02 Bewertungskategorien einer Skala mit fünf Werten, inklusive einer neutralen Mitte. Quelle Tilo Ried

Das Problem der Übertragbarkeit

Wird eine Stärken-Schwächen-Analyse für das gesamte Unternehmen durchgeführt, dann leitet sich die Bewertung innerhalb der einzelnen Bewertungskategorien aus einem Vergleich mit Mitbewerbern oder sogar mit den Marktführern ab: Wie gut oder schlecht erfüllt das eigene Unternehmen die Anforderungen hinter den Bewertungskategorien im Vergleich mit den ausgewählten Mitbewerbern? Es handelt sich daher um eine relative Bewertung der eigenen Fähigkeiten, die nur im direkten Vergleich ihre volle Aussagekraft erhält. Dazu dienen Antworten auf die folgenden Fragen:

  • Liegen die Kosten der Produktion über oder unter den Kosten der Mitbewerber (Bewertungskategorie Kosten)?
  • Kann das eigene Unternehmen schneller neue Produkte auf den Markt bringen oder ist es langsamer (Bewertungskategorie Innovations­geschwindigkeit)?
  • Ist die eigene Produktivität höher oder niedriger als die der Mitbewerber (Bewertungskategorie Produktivität)?

Auf Anhieb wird deutlich, dass die Recherche nach den passenden Antworten einigen Aufwand bedeutet. Bei manchen Bewertungskategorien ist es sogar unmöglich, die passenden Informationen zu erhalten. Haben die Mitbewerber, die als Maßstab dienen, keine Berichtspflicht, ist die Recherche nur über eine Marktforschung mit entsprechenden Kosten möglich – wenn sie überhaupt machbar ist.

Eine Vorgehensweise für das gesamte Unternehmen ist bei der strategischen Bewertung einer einzelnen Abteilung wie der Technischen Redaktion nicht zielführend. Die ursprünglichen Bewertungskategorien einer unternehmensweiten Stärken-Schwächen-Analyse erweisen sich schnell als ungeeignet, um die Ist-Situation einer Technischen Redaktion präzise zu bewerten. Viel besser ist es, eigene Bewertungskategorien zu ermitteln und anzuwenden.

Wünschenswert ist aber, dass der gesamte Bereich der Technischen Kommunikation in der unternehmensweiten Stärken-Schwächen-Analyse eine eigene Bewertungskategorie bildet. Die Gesamtbewertung lässt sich dann zum Beispiel als Erfolgsfaktor „Content Strategie“ im Diagramm darstellen.

Kritische Erfolgsfaktoren

Die Aussagekraft und damit der Einfluss auf die strategische Steuerung der Technischen Redaktion hängen von den ausgewählten Bewertungskategorien ab. Nur eine aussagekräftige Beurteilung der Ist-Situation führt zu den richtigen strategischen Maßnahmen. Weicht man im Fall der Technischen Redaktion zu Recht von den Bewertungskategorien für das gesamte Unternehmen ab, stellt sich die Frage, wie die individuellen, wirksamen Kategorien aussehen.

Eine Grundlage dafür sind die Ziele, die sich eine Technische Redaktion gegeben hat. Denn geeignete Bewertungskategorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie als Voraussetzung für das Erreichen der Ziele und damit als kritische Erfolgsfaktoren betrachtet werden können. Mit Blick auf die Technische Redaktion kann es sich um folgende Ziele handeln:

  • Einhalten der Erstellungskosten mit maximal zwei Prozent an den Herstellungskosten
  • zuverlässige Auslieferung der Gebrauchs- bzw. Betriebsanleitung zeitgleich mit dem Produkt
  • Erreichen der gewünschten Kundenzufriedenheit
  • Einhalten eines Eigenerstellungsanteils von 50 Prozent

Welche kritischen Erfolgsfaktoren als Grundlage für die Bewertungskategorien für die Stärken-Schwächen-Analyse lassen sich aus den Zielen ableiten? Welche Bewertungskategorien wirken positiv auf die Zielerreichung oder als notwendige Voraussetzung? Tabelle 1 bildet die Ziele auf geeignete kritische Erfolgsfaktoren ab.

Tab. 01 Quelle Tilo Ried

Die Fragestellungen, die sich daraus für eine Stärken-Schwächen-Analyse ergeben, stellen sich so dar:

  • Passt das Kompetenzprofil der Technischen Redaktion zu den geforderten Zielen?
  • Ist die Prozessqualität in der eigenen Abteilung ausreichend?
  • Entspricht die Qualität der redaktionellen Inhalte den Anforderungen der Kunden?
  • Ist die Ausstattung der Technischen Redaktion mit Ressourcen für Zielerreichung angemessen?

Wie ein beispielhaftes Bewertungsdiagramm für die Stärken und Schwächen einer Technischen Redaktion („Abteilung TD“) aussehen kann, zeigt Abbildung 3.

Eine Frage der Berechnung

Im Diagramm ist die Grundlage für eine Bewertung der Ist-Situation eine geeignete Berechnung hinter den einzelnen Bewertungskategorien: Was genau bedeutet die Bewertung des Kompetenzprofils mit „schlecht“? Warum ist die Prozessqualität mit „ausreichend“ bewertet? Warum liegt die Content-Qualität bei sehr gut? Was wird mit der Bewertung der Ressourcenausstattung der Abteilung mit „schlecht“ genau ausgesagt?

Für jeden einzelnen Fall ist es notwendig, eine geeignete und nachvollziehbare Vorgehensweise festzulegen, um Zahlen für die Analyse der Ist-Situation gewinnen zu können. Zum Beispiel lässt sich Prozessqualität auf Basis von Prozesskennzahlen erheben und qualitativ bewerten. Verwendbar sind Kennzahlen wie die Abweichung von vorgegebenen Durchlauf- und Lieferzeiten, die Anzahl von Überarbeitungs- und Korrekturzyklen oder die Menge an falsch oder verspätet zugelieferten Informationen an organisatorischen Schnittstellen zu anderen Abteilungen. Die Gesamtbewertung des Erfolgsfaktors Prozessqualität erfolgt rechnerisch aus den genannten Größen.

Die Frage nach einer geeigneten Ressourcenausstattung lässt sich analog aus der Bewertung der Überstunden oder durch dokumentierte Verspätungen bei der Auslieferung der Gebrauchs- und Betriebsanleitungen beantworten. Eine Bewertung des Kompetenzprofils erfordert eine Definition notwendiger Kompetenzen und deren Erfüllung in der Abteilung. Die Qualität des Contents kann durch eine Befragung des Kunden hinsichtlich seiner Zufriedenheit quantifiziert werden.

Ist und Soll

Da davon ausgegangen werden kann, dass bei einer Stärken-Schwächen-Analyse innerhalb einer Technischen Redaktion nur wenige Informationen über Mitbewerber vorhanden sind, gilt es, geeignete Soll-Werte gut zu überlegen.

Um das richtige Maß, also die richtigen Werte für den Soll-Zustand zu finden, kann der Zusammenhang zwischen kritischen Erfolgsfaktoren und Zielerreichung erneut betrachtet werden. Müssen kritische Erfolgsfaktoren zu einem sehr hohen Maß erfüllt werden (sehr gut), um das strategische Ziel zu erreichen? Oder ist eine Bewertung mit ausreichend möglicherweise angemessen (Abb. 03)?

Diagramm mit Stärken und Schwächen

Abb. 03 Kritische Erfolgsfaktoren im Stärken-Schwächen-Diagramm. Quelle Tilo Ried

Zu gut kann schlecht sein

Bei der Festlegung einer Referenz im Sinn von Soll-Werten ist der Faktor Übererfüllung zu berücksichtigen. Es ist nicht immer sinnvoll, dass Soll-Werte ganz rechts im Diagramm liegen. So kann es zielführend sein, den Soll-Wert für den Erfolgsfaktor Content-Qualität auf ausreichend zu setzen. Wird dieser Wert erreicht, könnte man davon ausgehen, dass der Kunde die vorhandenen Qualitätsabweichungen noch toleriert, sicherheits- und produkthaftungsrelevante Abweichungen aber ausgeschlossen sind. Eine Bewertung mit „sehr gut“ und damit ohne erkennbare Qualitätsabweichungen, wäre dann eine nicht notwendige Übererfüllung mit Potenzial zur Kostenreduktion.

Einmalig oder regelmäßig

Als Grundlage strategischer Arbeit liefert eine Stärken-Schwächen-Analyse eine aussagekräftige Bewertung der Ist-Situation. Die dabei gewonnenen Einsichten münden in der Definition strategischer Maßnahmen, die anschließend kurz-, mittel- oder langfristig umgesetzt werden müssen.

Wiederholt man nach einiger Zeit die Analyse mit den gleichen Bewertungskriterien und mit unveränderten Bewertungsskalen, dann wird deutlich, ob die Maßnahmen wirksam umgesetzt werden konnten. Eine regelmäßig durchgeführte Stärken-Schwächen-Analyse wird so zum Standardwerkzeug für das strategische Management einer Fachabteilung mit ihren eigenen spezifischen Erfolgsfaktoren.

Wird diese Methode auf vergleichbaren Strukturen mehrere Jahre lang durchgeführt, lassen sich aus den Veränderungen in den Bewertungen Trends erkennen, die durch geeignete strategische Maßnahmen unterstützt oder abgeschwächt und kontrolliert werden können. Als zentrale Methode der Design School ist die Wiederholbarkeit mit direkter Vergleichbarkeit sozusagen eingebaut.

Eingeschränkt wird eine langjährige Anwendung einer durchstrukturierten Stärken-Schwächen-Analyse aber durch Ziele, die sich verändern. Verschiebt sich zum Beispiel der Schwerpunkt der strategischen Ziele von der Kostenseite auf Qualität und Innovation, müssen entsprechend andere kritische Erfolgsfaktoren festgelegt und qualifiziert werden. Die Vergleichbarkeit der Ergebnisse über die Zeit wird dadurch eingeschränkt. Ansonsten besteht die Gefahr, richtige Maßnahmen für die falschen Ziele umzusetzen.

Strategische Maßnahmen

Eine strukturiert durchgeführte Stärken-Schwächen-Analyse ist nur dann wirksam, wenn auf den Ergebnissen aufbauend strategische Maßnahmen zu Verringerung der Abweichungen definiert und umgesetzt werden. Jede einzelne Maßnahme kann mindestens einer oder mehreren gefundenen Abweichung zugeordnet werden. Eine Gewichtung der Abweichungen erlaubt ein zielgerichtetes Priorisieren der Maßnahmen und eine transparente und begründete Entscheidung für die nächsten Schritte bei der Umsetzung. Auch die Definition von Projekten oder Programmen, in denen die Maßnahmen zusammengefasst werden, kann mit direktem Bezug auf die Ergebnisse der Stärken-Schwächen-Analyse erfolgen.

Keinen Schritt auslassen

Abbildung 4 zeigt den Ablauf einer Stärken-Schwächen-Analyse, wie sie in den vorangegangenen Abschnitten vorgestellt wurde.

Stärken und Schwächen

Abb. 04 Vorgehensmodell Stärken-Schwächen-Analyse im Überblick. Quelle Tilo Ried

Eine Stärken-Schwächen-Analyse ist eine relativ einfache Methode unternehmensweiter Strategiearbeit. Grundsätzlich eignet sie sich auch, um eingegrenzte Bereiche oder Problemstellungen zu bewerten. Voraussetzung für eine aussagekräftige und damit wirksame Bewertung ist allerdings eine strukturierte Erarbeitung der kritischen Erfolgsfaktoren, der dafür notwendigen Bewertungsskalen und geeigneter Soll-Werte für den Vergleich. Überspringt man aber einen dafür notwendigen Schritt, dann lässt sich zwar immer noch die Ist-Situation in einem professionellen Diagramm darstellen. Die daraus abgeleiteten Maßnahmen werden aber zum strategischen Blindflug.

Literatur zum Weiterlesen

[1] Ried, Tilo (2018): Bausteine und Vorgehen. In: technische kommunikation, H. 6, S. 56–59.

[2] Porter, Michael (1980): Competetive Strategy. Free Press, New York.

[3] Mintzberg, Henry (1990): The Design School: Reconsideration the basic premises of strategic management. Strategic Management Journal, Vol. 11, S. 171–195.

[4] Osgood, Charles E.; Suci, George J.; Tannenbaum, Percy (1957): The Measurement of Meaning. University of Illinois Press, Urbana.

Auf die Vollständigkeit kommt es an