Das Selbst modularisieren

Text: Mathias Maul

Mentale Tools helfen, einen klaren Kopf zu bekommen. Etwa dann, wenn sich die innere Stimme zu Wort meldet und alles Mögliche lautstark kritisiert.

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 03:49 Minuten

Sicher kennen Sie innere Stimmen, die manchmal wie aus dem Nichts auftauchen und teils gute, häufiger jedoch kritische Bemerkungen parat haben. „Schon wieder zu spät dran, verdammt!“ oder „Na prima, Müller, wenn du selbst deinen Text nicht kapierst, wie sollen’s die Kunden dann schaffen?“ sind noch harmlos. Viele Kunden berichten mir, dass sie mit sich selbst härter ins Gericht gehen, als sie es jemals mit anderen täten. Manchmal zaubert unser Hirn auch andere Personen dazu, und aus dem Monolog wird ein Dialog oder gar Streit mit dem ganzen – inneren – Team, Chef, (Ex-)Partner oder der Familie.

Solange Sie unterscheiden können, ob eine Stimme nur in Ihnen existiert oder von einer anderen, tatsächlich anwesenden Person kommt, besteht kein Grund zur Sorge: Es sind völlig normale Phänomene. Eine nützliche Grundannahme für unser Innenleben lautet: Jedes Verhalten ist sinnvoll, auch wenn es vielleicht noch nicht das bestmögliche ist. Demnach kann auch ein langer, nerviger, beschimpfender innerer Monolog den Sinn erfüllen – wenn auch vielleicht nicht so effizient, wie es möglich wäre.

Hier soll nicht die Frage geklärt werden, wer genau das „eine Ich“ ist, das das „andere Ich“ maßregelt. Diese Pluralität – die Vielfalt innerer Persönlichkeiten – beschäftigt die Menschen seit Urzeiten. Die hierzulande bekanntesten Erklärungsmodelle sind wohl das Freudsche Ich/Über-Ich/Es und die diversen Ichs aus Eric Bernes Transaktionsanalyse. Heinz von Foerster sprach in den 60ern von Kybernetik zweiter Ordnung und davon, wie wir unsere eigene – innere – Realität erzeugen. Daraus schufen Virginia Satir und später die Begründer des Neuro-Linguistischen Programmierens (NLP) Grundlagen für das, was heute als „systemisches Coaching“ bekannt ist: Die Modularisierung komplexer Prozesse, inklusive der eigenen, inneren, sowie deren Interaktionen.

Kurz: Wir konstruieren unsere Innenwelt so, dass wir unser Leben möglichst gut leben können. Mit inneren Stimmen – auch Persönlichkeitsanteile oder Facetten genannt – sortieren wir unser inneres Tohuwabohu. Sie sind komplexitätsreduzierende Sprachrohre unseres Innenlebens.

Weltweit gibt es tausende Modelle, um diesen Teil des Menschseins zu erklären und damit besser nutzbar zu machen. Modelle sind ganz ausdrücklich nicht die Wahrheit, es gibt also nicht „das Es“ in uns, genauso wenig wie es „den inneren Antreiber“ oder „die Ex-Freundin in unserem Kopf“ gibt. Ein Modell hilft, ein komplexes System so weit zu reduzieren, dass wir es zielgerichtet optimieren können.

Das modulare Selbst skizzieren

Jeder Mensch hat eine eigene Biografie mit einer Sammlung aus Erfahrungen und einem daraus über die Jahrzehnte gebastelten Weltmodell: Ein hochkomplexes System, das genau zu durchdringen genauso aussichts- wie sinnlos ist. Deutlich praktischer ist es, Teile dieses Systems zu modellieren und zu modularisieren mit dem Ziel, sie zu verbessern. Hier ein möglicher Prozess, mit dem Sie Ihr Inneres glatt(er) ziehen können. Zunächst ein wenig Exploration:

  1. Hören Sie sich die Stimme genau an. Erkennen Sie sie wieder? Ist es Ihre eigene oder die einer anderen Person? Kommt sie von vorne links, hinten rechts, unten? Ist sie dumpf, hell, laut, leise? Monoton? Dynamisch?
  2. Falls die Stimme eine Form hat, wie sieht sie aus? Ein Gnom, ein wildes Tier, ein Fünfeck? Eng umrandet oder verschwommen? Bunt, einfarbig?
  3. Wie fühlt sich das an, worüber die Stimme spricht, das „schon wieder zu spät dran“ sein? Und, danach, wie fühlt es sich für Sie als Beobachter an, das zu hören?

Danach kann ein erster, kleiner Schritt in Richtung Lösung erfolgen. Natürlich kann man diese Prozesse viel ausführlicher gestalten. An dieser Stelle kann ich nur den ersten Schritt skizzieren, der jedoch schon sehr viel bewirken kann.

  1. Erinnern Sie sich: Alles, was wir in unserem Hirn erzeugen, hat einen Sinn, auch wenn er nicht offenbar ist. Nehmen Sie – ganz wichtig! – nun diese Haltung ein. Wenn sie Ihnen neu oder ungewohnt ist, dann tun Sie so, als sei sie das Normalste auf der Welt.
  2. Nehmen Sie Kontakt zu dieser inneren Stimme auf. (Ja, man kann auch mit einem Fünfeck sprechen. Es ist ja Teil von Ihnen, nicht wahr? Nur zu.) Nähern Sie sich so an, wie es für Ihren Persönlichkeitsanteil passend sein könnte. Manchmal kann es hilfreich sein, ihn zu fragen, ob er bereit ist zu sprechen und wenn nicht, was für ihn hilfreich ist, um es zu tun.
  3. Fragen Sie – noch immer voll in der Haltung aus Schritt 1 – was sein Ziel ist, sein Sinn. Was möchte er (also Sie selbst) Ihnen Gutes tun? Bei Zielen, die schädlich klingen („Ich will, dass Du Dich blamierst!“) bleiben Sie im ruhigen Kontakt und fragen, was er/sie/es davon hat, wenn dieses Ziel erreicht ist. Ich versichere Ihnen: Mit der Zeit werden Sie bei einem positiven, hilfreichen Ziel ankommen.
  4. Bedanken Sie sich bei Ihrem Gesprächspartner und teilen ihm mit, dass Sie in ein paar Tagen nochmal reinschauen.

Schreiben Sie alles auf und schauen Sie, wie versprochen, in ein paar Tagen nochmal in Ihrem Innenleben vorbei und sehen Sie, was anders geworden ist. Allein die Beobachtung und Konsistenz kann Wunder wirken.

Alles geht

Sie müssen weder Freud noch einen der anderen genannten Autoren lesen, um dies alles „richtig“ zu machen. Wenn die kritische Stimme gestern noch eine vor Wut schäumende Comicfigur war, kann sie heute durchaus ein wabernder, rot-gelber Dodekaeder oder ein Marienkäfer mit Holzbein sein.

Deshalb: Spielen und kombinieren Sie! Modelle sind Orientierungshilfen, und was Sie mit Ihrem Hirn anstellen und dem, was darin geschieht, ist nur Ihnen überlassen. Die Dokumentation für sich selbst können Sie zu 100 Prozent allein schreiben – und fühlen. 

Mentale Tools für den Alltag.