Der Mediziner Dr. Arthur Bloomfield (1888–1962) von der Stanford University in San Francisco sagte einmal: „There are some patients whom we cannot help; there are none whom we cannot harm!“ Die Welt der Medizin bietet viele Möglichkeiten zur Diagnose und Therapie von Krankheiten, sie bringt aber auch Gefahren mit sich. Die Tendenz der Hersteller, ihnen mit vielen Warnhinweisen zu begegnen, hat fatale Folgen für die Gebrauchstauglichkeit von Anleitungen.
Dritthäufigste Todesursache
Studien aus den vergangenen 10 Jahren zeigen, dass Fehler in der Medizin schwere Folgen haben können, bis hin zum Tod. Laut dem Biomedical Journal 2016 sind medizinische Fehler die dritthäufigste Todesursache in den USA, ganz zu schweigen von Zwischenfällen, die glimpflich ablaufen.
Bedeutung von Gebrauchstauglichkeit
Angespornt durch solche Veröffentlichungen steigen seit vielen Jahren die Anstrengungen, Medizinprodukte sicherer zu machen. Bei der Entwicklung von Medizinprodukten ist neben dem klassischen Risikomanagement nach ISO 14971 auch die Gebrauchstauglichkeit eine wichtige Größe geworden. Die Gebrauchstauglichkeit widmet sich den anwendungsbezogenen Risiken. Spezifische Anforderungen werden in der IEC 62366-1 definiert. Die Anforderungen beziehen sich auf das User-Interface eines Medizinproduktes, das per Definition auch die Gebrauchsanweisung umfasst.
Wenn Menschen durch den Einsatz eines Medizinproduktes geschädigt werden, bedeutet das für den Produkthersteller nicht nur ein Imageproblem. Auch die Existenz des Herstellers steht auf dem Spiel, etwa durch Schadenersatzklagen. Gerade in den USA sind solche Klagen nicht selten und führen zu hohen Kosten.
Warnhinweise zur Exkulpation
Um Schadenersatz abzuwehren, muss der Hersteller belegen, dass er alles für den sicheren Gebrauch des Produkts getan hat und dass das Produkt ohne unakzeptable Restrisiken angewendet werden kann. Die Hersteller nutzen zum Beispiel die Möglichkeit, ihre Gebrauchsinformationen mit Warn- und Sicherheitshinweisen zu spicken. Die Gebrauchsanweisung wird zur juristischen Entlastung der Hersteller, um juristische Sicherheit bei möglichen Schadenersatzklagen zu erhöhen, frei nach dem Motto: „Lieber ein Hinweis zu viel erstellt als einer zu wenig!“
Dabei kann das Ziel einer vollständigen Absicherung durch Sicherheits- und Warnhinweise ohnehin nicht erreicht werden. Nicht jede Eventualität lässt sich vorhersehen, und es verbleibt immer ein Restrisiko beim Hersteller. Unternehmen sollten also realisieren, dass es nicht praktikabel und unmöglich ist, eine erschöpfende und vollständige Liste mit allen möglichen Gefährdungen und Risiken zu erstellen.
Das richtige Maß
Wichtig ist, dass der Hersteller beim Risikomanagement die möglichen Gefahren bei der Anwendung des Produktes in Bezug auf die Schwere des Schadens und die Wahrscheinlichkeit, dass er eintritt, bewertet und kategorisiert. Dabei sollen gemäß IEC 62366-1 alle vernünftigerweise vorhersehbaren Gefährdungen und gefährdungsbezogenen Anwendungsfälle berücksichtigt werden. Diese Szenarien beschreiben die Handlungen, die von Personen in einem bestimmten Kontext durchgeführt werden. Das Profil der jeweiligen Anwenderinnen und Anwender hat dabei einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit und die Schwere eines möglichen Schadens im Fall eines Fehlers. Medizinische Laien haben etwa deutlich weniger Vorkenntnisse und Erfahrungen als medizinisches Fachpersonal und müssen mit zielgruppenspezifischer Informationstiefe und Terminologie angeleitet werden, wie es auch die IEC/IEEE 82079-1 fordert.
Um Medizinprodukte auch für Laien sicherer zu machen, erscheinen Sicherheits- und Warnhinweise als ideal und effizient. Doch der unkontrollierte Einsatz von Sicherheits- und Warnhinweisen kann schnell zu einer „Überwarnung“ führen. Besonders Laien können das für sie Wesentliche nicht mehr vom Unnötigen trennen.
Für viele erfahrene Profis im klinischen Umfeld sind Hinweise wie „Das Skalpell ist scharf und kann zu Schnittverletzungen führen“ so banal, dass sie gerne übersprungen werden, wie Usability-Tests nicht selten belegen. Allerdings können die Informationen für medizinische Laien wesentlich sein. Die Entscheidung für oder gegen einen Warnhinweis ist also nicht einfach und muss darum auf klaren Methoden basieren.
Auch ein Sicherheitshinweis, dass fünf Seiten später ein Warnhinweis zum richtigen Umgang mit Hochfrequenz-Strom erfolgt, erscheint überflüssig. So kommt es also auf die richtige Auswahl der anzuwendenden Sicherheitsinformationen und die richtige Adressierung an. Dabei zählt Qualität vor Quantität.
Gestaltung von Warnhinweisen
Zur Gefahrenabwehr ist ein Sicherheits- oder Warnhinweis nur dann wirksam, wenn eine Reihe von Bedingungen erfüllt ist. Eine Person muss in der Lage sein,
- den Hinweis zu lesen (Readability/Legibility)
- die Informationen zu verstehen (Comprehensibility)
- darauf sein Verhalten anzupassen (Operationalisierbarkeit).
In der Vergangenheit wurde die Dichte an Sicherheits- und Warnhinweisen aufgrund der vermeintlichen Rechtssicherheit immer größer. Hersteller fühlten sich dadurch zwar sicher, in der Praxis bedeutete es aber nicht, dass Anwenderinnen und Anwender das Produkt gefährdungsfrei einsetzen konnten. Kann eine Person das Wesentliche nicht mehr vom Unnötigen trennen, so verzichtet sie meist gleich auf das Lesen aller Sicherheitshinweise. Die Sicherheitsinformationen existieren nur noch auf dem Papier, nämlich in der Risikoanalyse des Herstellers und der Gebrauchsanleitung des Produktes, und stellen damit eine vermeintliche Sicherheit dar. Sie werden aber nicht mehr wahrgenommen und beachtet.
Einen wesentlichen Einfluss auf die Wahrnehmung hat auch die eigentliche Gestaltung der Sicherheits- und Warnhinweise. Hierzu existieren Empfehlungen in einschlägigen Normenwerken, wie der ANSI Z 535-Reihe und der IEC/IEEE 82079-1. Eine häufig praktizierte Umrahmung der Sicherheits- und Warnhinweise in Verbindung mit der Kategorisierung unter Verwendung der Signalwörter „Gefahr“, „Warnung“ oder „Vorsicht“ und dem allgemeinen Warnsymbol (W001) mit einem Ausrufezeichen bietet Leserinnen und Lesern die Möglichkeit, diese Informationen gezielt zu überspringen, gerade wenn diese unaufhörlich aneinandergereiht sind. Zur Veranschaulichung ein aktuelles Beispiel eines Klasse IIa Medizinprodukts: Im einleitenden Kapitel folgen nach drei Seiten mit allgemeinen Sicherheitshinweisen weitere zwei Gefahrenhinweise, 93 Warnhinweise und 54 Vorsichtshinweise über weitere 15 Seiten. Dann folgt der erste Hinweis zur Verwendung des Produktes. Klar, dass diese insgesamt 18 Seiten gerne überblättert werden, wenn man zum Beispiel konkret nach Hinweisen für einen Sensoranschluss sucht. Glücklicherweise gibt es dafür ein Stichwortverzeichnis, das eine Person zielsicher auf Seite 139 lotst. Doch auf Seite 139 wird sie erneut von 19 Warnhinweisen empfangen, bevor es vier Seiten später zu den Erläuterungen geht. Diese 19 Warnhinweise sind übrigens, wer hätte das gedacht, deckungsgleich mit denen, die schon in der Einleitung aufgelistet sind. Im eigentlichen Inhalt gibt es dann allerdings kaum mehr eine Warnung; lediglich ein paar Hinweise auf Anleitungen von Zubehörkomponenten oder Erweiterungsmodulen.
Solche Beispiele sind keine Seltenheit. Ein kontextbezogener und handlungsorientierter, gezielter Einsatz passender Hinweise wäre die wesentlich bessere Alternative. Die Hinweise sollten möglichst nicht durch eine Umrahmung von der eigentlichen Beschreibung der korrekten Anwendung getrennt werden. Ein senkrechter Strich in Verbindung mit dem allgemeinen Warnsymbol W001 reicht zur Hervorhebung häufig aus, ohne den Lesefluss zu stören.
Hilfe durch Normen
Konkrete Hinweise zur Gestaltung von Gebrauchsanweisungen finden sich in der IEC/IEEE 82079-1, die im Herbst letzten Jahres gerade in deutscher Ausgabe als DIN EN IEC/IEEE 82079-1:2021-09 veröffentlicht wurde und selbstverständlich auch für Medizinprodukte gilt.
Aus regulativer Sicht hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan, was dem Problem der Überwarnung entgegentritt. Ein Beispiel dafür ist die IEC 62366-1.
Die erste Fassung der IEC 62366 aus 2007 forderte lediglich, dass so genannte Begleitpapiere wesentliche Informationen enthalten müssen, die für den Gebrauch des Produktes wichtig sind. Dazu zählen die Funktionsweise, die wesentlichen physischen Merkmale, die Leistungsmerkmale und die vorgesehenen Benutzerprofile. Zudem forderte die Norm, dass die Begleitpapiere auf einem dem Benutzerprofil angemessenen Niveau geschrieben sein müssen. Spezifische Anforderungen an Sicherheitsinformationen gab es nicht direkt.
Mit der neuen Ausgabe der IEC 62366-1 von 2015 sind die Begleitpapiere (als Teil des User-Interfaces eines Medizinproduktes) nicht nur zum Bestandteil des gebrauchstauglichkeitsorientierten Entwicklungsprozesses geworden. Die Begleitpapiere müssen bereits in der Spezifikationsphase berücksichtigt und über den gesamten iterativen Prozess bis hin zur finalen Evaluierung nachverfolgt werden. Dabei verlangt die aktuelle Norm die Überprüfung der Wirksamkeit der Begleitdokumentation als risikoreduzierende Maßnahme, wenn diese in der Risikoanalyse angeführt wird. Begleitdokumentationen, vormals Begleitpapiere, umfassen dabei etwa Gebrauchsanweisungen, Installationsanweisungen, technische Beschreibungen und Kurzanleitungen.
Diese normative Anpassung führt dazu, dass der Hersteller nicht einfach die Gebrauchsanleitung beliebig oft in der Risikoanalyse als juristische Absicherung vor Schadenersatzansprüchen anwenden kann: Er muss auch die Wirksamkeit der Maßnahme durch eine ausreichende Evaluierung nachweisen. Mit einer Überfrachtung durch Warnhinweise gelingt das nicht. Sicherheits- und Warnhinweise in Gebrauchsanweisungen müssen künftig deutlich sorgfältiger eingesetzt werden.
Mehr Bedeutung im Gesetz
Auch die gesetzlichen Anforderungen schenken den Gebrauchsinformationen mehr Aufmerksamkeit. Im Anhang I der europäischen Medizinprodukte-Verordnung widmet sich Kapitel III den „Anforderungen an die mit dem Produkt gelieferten Informationen“. Absatz 23 beschreibt in zahlreichen Punkten, welche Anforderungen an die Kennzeichnung und die Gebrauchsanweisung gestellt werden. Darunter befinden sich auch spezifische Anforderungen an den Umgang mit Warnungen, Vorsichtsmaßnahmen und Restrisiken. Dabei wird allerdings nur das Vorhandensein vorgeschrieben, nicht die Art und Weise der Darstellung. Hier bietet wieder die IEC/IEEE 82079-1 entscheidende Hinweise.