Was bedeutet das für uns als Gesellschaft? Können wir es uns leisten, so viele Menschen gesellschaftlich und wirtschaftlich abzuhängen? Bestimmt nicht. Wir müssen Kundinnen, Anwendern, Kolleginnen und Fachkräften, aber auch Bürgerinnen, Patienten, Eltern, Verbrauchern, Vereins- und Verbandsmitgliedern verständliche Texte ermöglichen, damit wir als Gesellschaft und Wirtschaft gemeinsam in die Zukunft starten können. Wissen ist Macht und Geld und Arbeit und Zukunft.
Daher stehen in diesem Artikel sieben Thesen, warum es in Zukunft viel mehr Einfache Sprache geben muss.
These Eins
„Fehler vermeiden“: Stellen Sie sich vor, wie viele Arbeitsunfälle vermieden werden können, wenn Produkttexte in Einfacher Sprache nur ein Prozent der Unfälle vermeiden würden? Denken Sie außerdem an Krankheitstage, Verdienstausfall, kostspielige Operationen, Reha und Therapie, Prüfung oder Anpassung von Sicherheitskonzepten – es ließe sich auch jede Menge Geld einsparen. Gehen wir noch weiter: Stellen Sie sich vor, wenn nur ein Prozent weniger Menschen Tabletten falsch einnehmen, nur ein Prozent weniger Anfragen durch Anwendungs- oder Verständnisprobleme auftreten würden – das Potenzial ist riesig.
These Zwei
„Effektiver und produktiver Arbeiten“: Der kürzlich verstorbene und unter Journalistinnen und Journalisten als Sprachpapst bekannte Wolf Schneider sagte immer, dass sich einer plagen müsse: entweder Schreiber oder Leser. Wer kennt es nicht, wenn E-Mails erst einmal enträtselt und interpretiert werden müssen, was oft sehr viel Zeit, Geduld und Kraft kostet? Wie hilfreich wäre es, wenn der Inhalt, der Appell, die Anfrage sofort klar wären? Viele Informationen laufen in der Alltagssprache zudem zwischen den Zeilen, Subtext sozusagen. Ist der Satz der Vorgesetzten „dein Büro ist sehr sauber“ eine reine Feststellung der Tatsachen, ein laut ausgesprochener Appell an sich selbst, das eigene Büro sauberer zu halten oder eine passiv-aggressive Aussage darüber, dass sich der Mitarbeiter zu viel mit unwichtigen Dingen beschäftigt oder zu wenig zu tun hat? Schwierig.
Auch andere Texte, wie Arbeitsanweisungen, Empfehlungen, Richtlinien, Geschäftsordnungen oder Gesetze lassen – gewollt oder ungewollt – oft Interpretationsspielräume. Das führt zu Unsicherheit, unterschiedlichen Auffassungen, doppelter Arbeit und vermeidbaren Nachfragen.
Alltagssprache ist mitnichten eindeutig, Einfache Sprache schon. Sie führt zu mehr Eindeutigkeit, Effektivität und somit auch Produktivität – wenn sie gut gemacht ist. Einfache Sprache ist direkter, konkreter, zielorientierter. Meine E-Mails redigiere ich sehr oft nach den Regeln der Einfachen Sprache, bevor ich sie abschicke – das spart sehr viel Zeit, Rückfragen, Unstimmigkeiten und Fehler. Dabei stelle ich immer wieder fest: Ist mir selbst etwas nicht so klar, dann schreibe ich meist kompliziert. Wobei wir wieder bei Wolf Schneiders Satz wären, dass sich eben einer Gedanken machen muss.
These Drei
„Durch Zielgruppenbezug zu mehr Kundenzufriedenheit“: Einfache Sprache ist zielgruppenorientiert. Je nach Zielgruppe kann sie unterschiedlich aussehen. Vergleicht man Einfache Sprache mit dem Erwerb einer Fremdsprache, so bewegt sie sich nach dem Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen in der Regel auf dem Niveau A2 bis B1. Doch auch Texte, die sich eher auf B1- bis B2-Niveau bewegen, können Einfache Sprache sein. Es kommt eben auf die Zielgruppe an. Einmal hatte ich den Auftrag, Teile einer sehr wissenschaftlich gehaltenen Anleitung für soziallagenbezogene Gesundheitsförderung in der Projektpraxis für Krankenschwestern und -pfleger in Einfache Sprache zu übersetzen. Die Zielgruppe hatte bereits Erfahrung in der Projektumsetzung und durch den beruflichen Hintergrund medizinisches Fachwissen, doch sie hatte weniger Wissen in der soziallagenbezogenen Gesundheitsförderung. Für diese spezielle Zielgruppe habe ich den Text auf B1- bis B2-Niveau übersetzt. Würde man diese Übersetzung an eine allgemeine Leserschaft richten, so müsste man den Text noch weiter vereinfachen.
Je nach Zielgruppe und Ziel des Autors beziehungsweise Auftraggebers lässt sich Einfache Sprache also in einem gewissen Rahmen anpassen. Dies empfinde ich als große Stärke der Einfachen Sprache, da sich Verfasserinnen und Verfasser mehr Gedanken darüber machen müssen, für wen und aus welchem Grund sie Texte schreiben. Aus der Praxis wissen wir, dass viele Menschen eine zu leichte Sprache ablehnen. Komplizierte Sprache, lange oder strukturell wenig durchdachte Texte sorgen dafür, dass Menschen Texte nur mit großer Überwindung lesen oder dann doch eher beiseitelegen. Einfache Sprache bringt eine Anforderung mit sich, die meines Erachtens für alle Texte gelten sollte: Autorinnen oder Autoren müssen sich Gedanken über die Zielgruppe machen. In meinen Workshops für Einfache Sprache nutze ich denselben Merksatz wie für Erstsemester im Technikjournalismus: Für wen schreibe ich und was will ich mit meinem Text erreichen?
Ein kleiner Exkurs zu den PISA-Ergebnissen von 2018. In diesem Jahr war das Lesen wieder einer der Schwerpunkte. Der Aussage „Für mich ist Lesen Zeitverschwendung“ stimmten 34 Prozent der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler in Deutschland zu, der OECD-Durchschnitt lag bei 28 Prozent. Die Hälfte der jungen Menschen stimmten der Aussage zu „Ich lese nur, wenn ich muss“. Ich glaube, dass diese Aussagen auch daran liegen, dass junge Menschen oft nur mit schrecklichen Texten konfrontiert werden. Wer die Erfahrung nie gemacht hat, dass Lesen Spaß machen kann, wenn Texte gut durchdacht, zielführend, interessant und an das entsprechende Leseniveau angepasst sind, der wird eben nur dann lesen, wenn er muss.
These Vier
„Gesetzliche Pflicht“: Wer sich neuere Gesetze, Gesetzesinitiativen oder Anträge genau ansieht, erkennt bereits, wohin die Reise geht: Einfache Sprache wird vermutlich in manchen Lebensbereichen Pflicht. Schon jetzt steht in der Geschäftsordnung der Bundesregierung, dass Gesetzentwürfe „sprachlich richtig und möglichst für jedermann verständlich gefasst sein“ müssen (Paragraf 42 Absatz 59). In der Datenschutz-Grundverordnung kann man nachlesen, dass geeignete Maßnahmen zu treffen sind, um der betroffenen Person alle Informationen „in präziser, transparenter, verständlicher und leicht zugänglicher Form in einer klaren und einfachen Sprache zu übermitteln“ (Artikel 12, Absatz 1). Auch im Behindertengleichstellungsgesetz und im Inklusionsstärkungsgesetz NRW gibt es Passagen, in denen von „leicht verständlicher Sprache“ die Rede ist. Zur Auffindbarkeit, Zugänglichkeit und Nutzbarkeit von Informationen gehöre auch „die Gewährleistung der Verständlichkeit von Informationen“.
Die UN-Behindertenkonvention hat eine entscheidende Wendung auf die Sichtweise bewirkt: Nicht die Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen müssen sich anpassen. Weitgehende Barrierefreiheit und ein „Design für Alle“ sollen dafür sorgen, dass alle Menschen möglichst ohne fremde Hilfe sozialen und ökonomischen Zugang bekommen. Dadurch sind automatisch auch Menschen eingeschlossen, die im herkömmlichen Sinne keine Behinderung haben, sondern aufgrund von Alter, Jugend, Bildungsstand oder (fehlenden) Kenntnissen erschwerten Zugang haben.
Diese Gesetze gelten zwar nicht für alle Bereiche des Lebens, dennoch vererben sie sich bereits jetzt, zum Beispiel durch Fördervoraussetzungen von staatlichen Stellen. Einige Behörden setzen bereits Projekte zum Thema Einfache Sprache um: Die Stiftung für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) betreibt die Webseite „Gesundheitsinformation.de“. Dort steht: „Es gehört zum gesetzlichen Auftrag des IQWiG, allgemeinverständliche Gesundheitsinformationen für alle Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung zu stellen.“ Das Bundeszentrum für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) betreibt seit 2020 einen eigenen Bereich mit Texten in Einfacher Sprache, um „gesicherte und aktuelle Informationen zum Thema Ernährung für möglichst viele Menschen zugänglich zu machen“. [3]Anstoß für das Projekt „wirksam regieren“ der Bundesregierung war das Ergebnis einer Befragung: „Bürgerinnen und Bürger sind mit der Verständlichkeit des Rechts im Vergleich mit anderen Faktoren behördlicher Dienstleistungen am wenigsten zufrieden.“ [4]
These Fünf
„Gewinnung und Inklusion von Fachkräften“: Es gibt Wirtschaftsbereiche wie Pflege, Medizin und Handwerk, die händeringend Arbeitskräfte suchen. Dazu kommt der große Mangel an Arbeitskräften, die etwa im MINT-Bereich oder in Schulen arbeiten können. Der Fachkräftemangel wird zu einem immer drängenderen Problem. Auch hier kann Einfache Sprache einen wesentlichen Teil zur Lösung des Problems beitragen. (Fachkräfte-)Zuwanderung kann besser gelingen, wenn Menschen ihre Rechte und Pflichten kennen und verstehen. Im beruflichen Kontext sollte es ihnen ebenfalls durch Einfache Sprache leichter fallen, Arbeitsanweisungen zu verstehen, Lehrbücher für Ausbildungsberufe durchzuarbeiten oder Weiterbildungsangebote wahrzunehmen.
Einfache Sprache ermöglicht aber nicht nur dieser Zielgruppe einen besseren Zugang zu Arbeit (oder andersrum Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern zu mehr Arbeits- und Fachkräften). Sie bietet auch Menschen besseren Zugang zu Arbeit, die nach einer längeren Pause wieder in den Beruf einsteigen, älteren oder jüngeren Menschen oder auch Menschen mit Behinderung. Denn durch Lehrbücher, Arbeitsanweisungen und Infomaterialien in Einfacher Sprache bekommen sie einen erleichterten Zugang (s. „These Sieben“).
These Sechs
„Projekt ‚DIN 8581-1: Einfache Sprache – Anwendung für das Deutsche‘“: Die ISO 24495-1 „Einfache Sprache – Teil 1: Grundsätze und Leitlinien“ befindet sich genauso in finalen Abstimmungsrunden wie das nationale Projekt „DIN 8581-1: Einfache Sprache – Anwendung für das Deutsche“, dem ich als Projektleiterin angehöre. Diese nationalen und internationalen Normen werden der Einfachen Sprache eine starke Strahlkraft und einen großen Entwicklungsschub geben. Sie sind durch einen Diskurs von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlicher Hand entstanden und haben dadurch eine sehr viel breitere Basis als bisherige Regelwerke zum Thema oder in Eigenregie kreierte Siegel für Einfache Sprache. Ein weiterer ISO-Antrag für „Einfache Sprache, Teil 2 Juristisches Schreiben und Verfassen von Texten“ ist bereits gestellt worden.
These Sieben
„Besserer Einstieg für eine immer komplexere Welt“: Wir leben in einer Welt voller Spezialisierung, Komplexität und gefühlt unendlichem Wissen. Lesern und Leserinnen dieser Zeitschrift wird es vermutlich schwerfallen, Laien zu erklären, was sie beruflich genau machen. Für einige neue Berufsfelder gibt es noch nicht einmal Namen. Diese enorme Weiterentwicklung unserer Welt durch digitale Technik steht vermutlich erst am Anfang. In einem Interview wurde Stephen Hawking um die Jahrhundertwende gefragt, was er darüber denke, ob das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Biologie werde, nachdem das 20. das der Physik war. Er antwortete: „Ich denke, das nächste Jahrhundert wird das Jahrhundert der Komplexität sein“ (Hawking 2000). Da liegt der Vergleich mit ähnlich bahnbrechenden Erfindungen und Entwicklungen wie Buchdruck oder Dampfmaschine sehr nah.
Und so sehe ich auch hier Einfache Sprache als Teil der Lösung, die komplexe und globalisierte Welt erklären zu können. Wer heute den Beruf des Journalisten erlernen möchte, muss sich mit SEO (Textoptimierung für Suchmaschinen im Internet), Audio (Podcasts), Videos, Fotos, Text, Datenanalyse und manchmal auch mit Programmierung befassen. Einer Zeitungsjournalistin in den 1960er Jahren erging das sicher nicht so. Daher brauchen wir Texte, Schulungen, Wissen, Angebote aller Art, die einen leichten Einstieg ermöglichen. Niemand kann einen Berufswunsch entwickeln, wenn er oder sie nicht versteht, was in diesem Job verlangt wird. Einfache Sprache kann hier eine Mittlerrolle übernehmen zwischen Einsteigern, Erfahrenen und Experten. Denn die Kommunikation zwischen den verschiedenen Ebenen (oder auch verschiedenen Unternehmensbereichen) ist entscheidend, um gemeinsam voranzukommen. Den Satz „Was interessiert mich ein Sack Reis, der in China umgefallen ist?“ wird heute, nach Pandemie und dem Krieg in der Ukraine, niemand mehr leichtfertig sagen.
Wie geht es weiter?
Für den lange erwarteten Takeoff der Einfachen Sprache müssen zunächst einmal mehr Menschen den Unterschied zwischen Einfacher und Leichter Sprache kennen. Leichte Sprache richtete sich vornehmlich an Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Einfache Sprache richtet sich an breite Bevölkerungsschichten mit geringer Lesekompetenz. Auch Menschen mit hoher Lesekompetenz können Texte in Einfacher Sprache akzeptieren. Bei der Leichten Sprache wissen wir, dass dies nicht so ist.
Außerdem muss endlich klar werden, dass man für gute Texte im Allgemeinen und Texte in Einfacher Sprache im Speziellen auch gut ausgebildete Profis benötigt. Professionelle Redakteure, Journalistinnen oder Texter können in der Regel einfach besser schreiben als Pädagoginnen, Ärzte oder Ingenieurinnen. Gut gemeinte Texte in Leichter Sprache mit dem Etikett „Einfache Sprache“, missratene Mischformen oder fragwürdig Siegel für Einfache Sprache, die nach eigenem Ermessen ins Leben gerufen wurden, weil es (noch) keine Standards gibt, sind für den Fortschritt der Einfachen Sprache wenig hilfreich.
Erst wenn in allen Bereichen der Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft klar ist, was Einfache und was Leichte Sprache ist, wann die eine und wann die andere notwendig ist und Texte so oder so von Profis geschrieben wurden, wird sich die Einfache Sprache institutionalisieren und eine breite Nutzung erfahren. Dann werden sich gute und hilfreiche Informationen und Texte für eine breite Leserschaft endlich durchsetzen. Und nicht, dass Sie mich falsch verstehen, ich bin der Auffassung, dass es Leichte und Einfache Sprache braucht. Und niemand will komplizierte Sprache „komplett abschaffen“, wie es mich so manch ein verängstigter Workshopteilnehmer gefragt hat.
Glücklicherweise wird es bald eine ISO- und DIN-Norm „Einfache Sprache“ geben. Dann werden mehr Menschen den Wert der Einfachen Sprache erkennen und sich für verständliche Bedienungsanleitungen, Packungsbeilagen, Warnhinweise, Handlungsanweisungen, Wahlunterlagen, Vorsorgehinweise, Arbeits-, Miet- oder Versicherungsverträge stark machen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich Einfache Sprache in unserem Alltag durchsetzt.
Beispiele für Regeln der Einfachen Sprache | ||
Allgemeine Grundsätze | Satzebene | Wortebene |
Rechtschreibung und Grammatik einhalten | Pro Satz maximal 25 Wörter schreiben | Unbekannte und schwierige Wörter vermeiden oder erklären |
Nominalstil vermeiden | Passivkonstruktionen vermeiden | Konkrete und eindeutige Wörter nutzen |
Inhalte auf Zielgruppe zuschneiden | Pro Satz möglichst nur einen Nebensatz nutzen | Lange Wörter vermeiden, auflösen oder mit Bindestrich schreiben |
Text gut strukturieren | Einschübe und Schachtelsätze vermeiden | Verneinungen und Funktionsverbgefüge vermeiden |
Tab. 01 Quelle Conny Lopez |
Links
[2] https://leo.blogs.uni-hamburg.de/wp-content/uploads/2011/12/leo-Presseheft_15_12_2011.pdf
[3] https://www.bzfe.de/einfache-sprache
[4] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/wirksam-regieren/recht-verstaendlich-machen-317120