Risiken beurteilen und verstehen

Text: Matthias Schulz

Die Risikobeurteilung ist wesentlicher Bestandteil der technischen Unterlagen. Sie hilft der Technischen Redaktion, Benutzer vor Gefahren zu warnen, die sich konstruktiv nicht beseitigen lassen. Doch die Praxis sieht anders aus. Was sind die Gründe? Und wie lässt sich das Verfahren verbessern?

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 06:51 Minuten

Die Informationen in Sicherheits- und Warnhinweisen stammen maßgeblich aus der Risikobeurteilung zum Produkt. Zumindest sollte es so sein. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass die Auswertung von Risikobeurteilungen schwierig ist und Unklarheiten bleiben.

Oft werden Warnhinweise zur Beherrschung bestimmter Risiken gefordert. Aber die Maßnahmen, die der Anwender treffen muss, sind in der Risikobeurteilung nicht erwähnt. Oder der Zusammenhang einer geforderten Warnung mit den Arbeits- und Bedienabläufen ist unklar, weil sie nur auf einen technischen Sachverhalt und nicht auf eine konkrete Gefährdungssituation bezogen ist. Mancher Technische Redakteur fragt sich, wo er die Warnung platzieren soll. Und zu welchem Arbeitsablauf gehört sie?

Barrieren auf beiden Seiten

Wieso sind die Inhalte von Risikobeurteilungen für Technische Redakteure oft so unbefriedigend? Im Wesentlichen hat dies zwei Gründe.

Erstens: Risikobeurteilungen werden selten mit Rücksicht auf den Informationsbedarf der Technischen Redaktion durchgeführt. Betriebsanleitungen werden von Konstrukteuren häufig als lästige Notwendigkeit verstanden und nicht als unabdingbarer Teil des Sicherheitskonzeptes des Produktes. Allerdings nervt mancher Technische Redakteur mit der Überbetonung der Sicherheits- und Warnhinweise; denn völlig zu Recht weisen Konstrukteure darauf hin, dass es bei der Sicherheit vor allem um Risikominderung durch technische Maßnahmen geht. Sicherheits- und Warnhinweise sind „nur“ das letzte Mittel; oder sie sollten es zumindest sein. Die Mängel in Risikobeurteilungen entstehen somit weniger aufgrund einer immer wieder behaupteten Ignoranz der Konstrukteure als vielmehr aus mangelndem Verständnis des Gesamtzusammenhangs auf beiden Seiten.

Der zweite Grund: Die zur Identifizierung der Gefährdungen angewendeten Methoden basieren meist nicht auf den Arbeitsabläufen, Tätigkeiten und Situationen, in denen Menschen später mit Gefährdungen in Kontakt kommen. In über 50 Prozent der Fälle wird stattdessen eine auf einer Gefährdungsliste basierende techniklastige Betrachtung des Produktes von innen nach außen praktiziert. Dass diese Methode schon seit 2007 mit der Einführung der aufgabenbezogenen Risikobeurteilung überflüssig ist, stört anscheinend wenig (s. etwa EN ISO 12100 Abs. 5.4, ISO TR 14121-2, CENELEC Guide 32, ANSI B11.0 Kapitel 6.3). Gerade der Maschinenbau hält mehrheitlich an einer Methode fest, die systematisch Risiken übersieht und Informationslücken produziert, obwohl die Normen schon lange eine andere Vorgehensweise beschreiben.

Grundlagen der Technischen Redaktion

Nach den heute geltenden Regeln muss die Betriebsanleitung Informationen zum sicheren Gebrauch des Produkts enthalten. Die Technische Redaktion muss mindestens auf folgende Fragen eine Antwort geben:

  • Welche technischen Maßnahmen wurden getroffen, um Risiken zu mindern? Der Anwender muss die Schutzeinrichtungen und -maßnahmen richtig verstehen und einsetzen sowie regelmäßig prüfen und instand halten können.
  • Welche Risiken, die nicht technisch gemindert werden konnten, muss der Benutzer kennen und wie soll er ihnen begegnen? So kann der Anwender Gefährdungen erkennen und sichere Arbeitsverfahren anwenden.
  • Wer darf das Produkt wo und wann, außerdem unter welchen Bedingungen für welche Zwecke einsetzen? Der Anwender muss die Grenzen der Anwendbarkeit verstehen, sowohl bezogen auf den Einsatzzweck und eigene mögliche Ziele als auch zeitlich und räumlich.

Technische Redakteure recherchieren daher in Risikobeurteilungen nach den folgenden Informationen:

  • Beschreibung von Schutzeinrichtungen und -maßnahmen sowie der Sicherheitsfunktionen der Steuerung
  • Informationen zu Warnungen, die auf dem Produkt angebracht oder in der Betriebsanleitung angegeben werden sollen
  • Informationen zu den Grenzen des Produktes (etwa Zielgruppe und erforderliche Personalqualifikation, Anwendungsmöglichkeiten, gefährliche Fehlanwendungen, Haltbarkeit und sicherheitsrelevanter Verschleiß und Anforderungen an die Einsatzum­gebung)

Heute werden Informationen zu den Grenzen des Produktes in der Dokumentation von Risikobeurteilungen meist der eigentlichen Betrachtung der Risiken vorangestellt. Zunehmend findet man dabei auch ähnliche Strukturen vor. So werden die Stichworte zu den Einsatzgrenzen des Produkts aus Abschnitt 5.3 der EN ISO 12100 zur Gliederung der Information verwendet. Das ist gut so. Leider sind die eigentlichen Informationen aber oft zu dünn und erfordern viele Nachfragen. Ein Beispiel sind Angaben zu den mit einem Produkt zu ver- oder bearbeitenden Materialien sowie zu den erforderlichen Betriebs- und Hilfsstoffen. Tabelle 01 zeigt, was in Risikobeurteilungen häufig fehlt.

Tabelle

Tab. 01 Quelle Matthias Schulz

Die Methode entscheidet

Viele der Mängel im Informationsgehalt von Risikobeurteilungen gehen auf die angewendeten Methoden zurück. Eine Risikobeurteilung, die der Struktur einer Gefährdungsliste folgt (zum Beispiel der Gefährdungsliste aus EN ISO 12100 Tabelle B.1), erschwert es dem Technischen Redakteur zu erkennen, in welchen Arbeitssituationen und bei welchen Abläufen Gefährdungen auftreten. Wer beispielsweise nach der Gefährdung „Quetschen“ sucht, dokumentiert Stellen des Produktes, an denen sich ein bewegliches Teil an ein feststehendes annähert (oder sich zwei bewegliche Teile einander nähern). Er betrachtet das Risiko unter dem Gesichtspunkt der durch die vorliegende Konstruktion entstehenden Gefährdungsursachen. Oft wird den so entdeckten Gefährdungen nachrangig eine so genannte „Lebensphase“ zugeordnet. In dieser Phase kann die Gefährdung auftreten. Doch die eigentliche Arbeitssituation oder der Ablauf, der zu der Gefährdung führt, bleibt im Dunkeln.

Warum ist die Wahl dieser Methode zur Risikobeurteilung gerade für Technische Redakteure ungünstig? Weil sie in Anleitungen Abläufe und Arbeitssituationen beschreiben. Anwender werden in Schrittfolgen durch erforderliche Handlungen geführt. Vor Gefährdungen soll dabei in Verbindung mit den Handlungsschritten gewarnt werden. Wenn die Risikobeurteilung Gefährdungen jedoch allein oder hauptsächlich den ursächlichen konstruktiven Gegebenheiten zuordnet, benötigt der Redakteur erhebliche Fantasie (oder eben viele zusätzliche Fragen), um Warnungen korrekt den Handlungssträngen zuordnen zu können (Beispiele in Tabelle 02 und 03).

Folgt eine Risikobeurteilung hingegen der schon seit Jahren in EN ISO 12100 Kapitel 5.4 und ISO TR 14121-2 geforderten Strukturierung nach Lebensphasen und Aufgaben, werden die Gefährdungen Handlungen und Abläufen zugeordnet. Inhalt und Platzierung von Warnhinweisen ergeben sich daraus unmittelbar.

Leider weigert sich so manche Konstruktionsabteilung, ihre Methoden zur Risikobeurteilung an die aktuell geltende Normung anzupassen. Das Versäumnis, Gefährdungen mit den Lebensphasen und darunter einzuordnenden Tätigkeiten und Abläufen zu verbinden, ist das größte Hindernis für eine reibungsärmere Zusammenarbeit zwischen Konstruktion und Technischer Redaktion. Das gilt auch für die Zusammenarbeit zwischen Konstrukteuren mit Schwerpunkt Mechanik und Steuerungstechnikern.

Tabelle.

Tab. 02 Quelle Matthias Schulz

Tabelle.

Tab. 03 Quelle Matthias Schulz

Beteiligen an Neuanschaffungen

Vielfach werden heute Softwaretools zur Risikobeurteilung eingesetzt. Leider haben die meisten Anwendungen den falschen Ansatz und suchen nach Gefährdungsquellen in der Konstruktion. Sinnvoller wäre es, Gefährdungen zu recherchieren, die in bestimmten Arbeitssituationen und Arbeitsabläufen auftreten. Gleichzeitig enthalten die Programme immer häufiger Funktionen zur systematischen Weitergabe von Informationen an die Technische Redaktion. Dies gilt nicht nur für die Grenzen des Produktes, die üblicherweise im Kapitel Sicherheit beschrieben werden. Einige Risikobeurteilungsprogramme fragen inzwischen auch die für Warnhinweise erforderlichen Informationen über entsprechend gestaltete Fenster ab: die Art der Gefährdung, die Folgen, vor allem aber die Maßnahme zur Vermeidung des Risikos.Manche Programme ermöglichen es sogar, Warnhinweise zu erstellen, ihnen Symbole und Piktogramme hinzuzufügen und sie dann einer Risikobeurteilung zuzuordnen. Am Ende wird meist eine Liste von erforderlichen Sicherheits- und Warnhinweisen ausgegeben oder sogar an ein Redaktionssystem übermittelt. Der Technische Redakteur kann die Liste anschließend abarbeiten. Doch ein Manko bleibt bei fast allen: Wenn die Struktur der Risikobeurteilung der Gefährdungsliste folgt und nicht den Arbeitsabläufen, bleibt weiterhin unklar, wo in der Anleitung der Warnhinweis am Ende platziert werden sollte.

Daher sollte man sich nicht auf die oft vollmundigen Werbeversprechen der Anbieter verlassen, sondern die Funktionalität der Software und die geplante Art der Zusammenarbeit zwischen Konstruktion/Entwicklung und Technischer Redaktion sowie den Steuerungstechnikern im Detail hinterfragen. Die Technische Redaktion sollte unbedingt an der Kaufentscheidung beteiligt werden.

Die Position des Redakteurs

Betrachtet man häufige Mängel in der Dokumentation von Risikobeurteilungen aus Sicht der Technischen Redaktion, dann ist es nicht verwunderlich, dass mancher Redakteur gern an der Risikobeurteilung beteiligt wäre. Damit aber kein Missverständnis entsteht: Technische Redakteure sollten die Aufgabe, die Risikobeurteilung durchzuführen, nicht von den Konstrukteuren übernehmen. Das würde zum einen dazu führen, dass sie auch weiterhin nicht zum richtigen Zeitpunkt durchgeführt wird, nämlich vor der Detailkonstruktion des Produktes. Zum anderen fehlt es den meisten Technischen Redakteuren am sicherheitstechnischen Know-how, um Produkte zu entwickeln, die nach dem Stand der Technik sicher sind. Weiterhin haben sie nicht die innerbetrieblichen Kompetenzen, um erforderliche Produktänderungen durchzusetzen.

Gleichwohl können Technische Redakteure bei der Risikobeurteilung eine wichtige Rolle spielen. Idealerweise werden Risikobeurteilungen von „interdisziplinären“ Teams durchgeführt. Ein Technischer Redakteur könnte dabei zum einen verstärkt darauf hinwirken, dass Gefährdungen aus der Sicht des Anwenders und der Anwendungssituation betrachtet werden. Dies ist gerade dann entscheidend, wenn das Unternehmen an einer gefährdungslistenbasierten Risikobeurteilung festhält. Zum anderen sind Redakteure besser qualifiziert als die meisten Konstrukteure, wenn es darum geht, eindeutige und terminologisch durchgängige Texte zu formulieren. Gerade solche Texte benötigt man, wo Schutzmaßnahmen und Sicherheitsfunktionen definiert und die Inhalte von Warnungen festgelegt werden. Die zunehmende Grafikorientierung in der Technischen Dokumentation ist ein weiteres Element, das die Dokumentation von Risikobeurteilungen verbessern kann. Ursache-Wirkungszusammenhänge lassen sich oft einfacher in einem Flussdiagramm darstellen als in einem Text. Die Anordnung von Schutzeinrichtungen in einer Anlage lässt sich viel effizienter in einer Layoutzeichnung darstellen als lediglich mit beschreibendem Text.

Daher sollte jeder Hersteller technischer Geräte oder Maschinen seine Fachleute für Technische Kommunikation an der Risikobeurteilung beteiligen. Sie leisten einen Beitrag, Gefährdungssituationen zu erkennen, die dem Blick des Konstrukteurs verborgen bleiben. Außerdem können Sie Maßnahmen umsetzbar und überprüfbar dokumentieren. 

Beitrag in Ausgabe 05 2021 der technischen kommunikation.