Kommunikation jenseits von Kapiteln

Text: Dieter Gust

Viele Anleitungen sind so formuliert, als ob sie ganz gelesen werden. Die Realität ist eine andere. Daher gilt es, bestehende Annahmen zu hinterfragen, neue Kommunikationsmodelle zu entwickeln und den Nutzungskontext gezielter zu berücksichtigen.

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 08:45 Minuten

Wie nutzt man Bedienungs- bzw. Betriebsanleitungen? Diese Frage sollte sich jede Technische Redaktion regelmäßig stellen. Schließlich ist in vielen Anleitungen folgender Satz zu lesen: „Wichtig: Bitte lesen Sie diese Bedienungsanleitung vor Verwendung des Produkts sorgfältig und bewahren Sie sie zur späteren Verwendung auf.“

Das sorgfältige Lesen einer Anleitung von der ersten bis zur letzten Seite als Voraussetzung für die Nutzung eines Produkts – ist das eigentlich eine gesetzliche Forderung, eine normative Forderung oder das Testergebnis von Umfragen bei Anleitungsnutzern? Gesetze fordern die Bereitstellung von Sicherheitsinformationen ohne nähere Erläuterung, und die Umfragen, die ich kenne, bestätigen eher eine gezielte, sporadische Nutzung einer Anleitung. Inzwischen bevorzugen viele Anwender eine YouTube-Suche. Oder sie fragen ChatGPT.

Erwartungen durch Normen

Die wichtigsten Grundlagenormen zur Technischen Kommunikation spiegeln eher eine Sicht wider, die sich seit Erfindung des Buchdrucks über Jahrhunderte etabliert hat. So schreibt der Normentwurf 12100:2025-03 Sicherheit von Maschinen – Allgemeine Gestaltungsleitsätze – Risikobeurteilung und Risikominderung, unter 6.4.5.3 Abfassung und Herausgabe der Benutzerinformation: „Werden Benutzerinformationen erarbeitet, sollte der Kommunikationsablauf ‚Sehen – Denken – Anwenden‘ befolgt werden, um größten Nutzen zu erzielen, und den Arbeitsschritten folgen. Die Fragen ‚Wie?‘ und ‚Warum?‘ sollten vorweggenommen und beantwortet werden.“

Weitere Erläuterungen zu dem Kommunikationsprinzip enthält die Norm nicht, und ich fürchte, dass dieser Text, der bereits aus der Vorgängernorm stammt, bislang selten kritisch hinterfragt wurde.

Die neue Norm 12100 von 2025 verweist übrigens normativ auf die Norm 20607 Sicherheit von Maschinen – Betriebsanleitung – Allgemeine Gestaltungsgrundsätze (neuer Normentwurf von März 2025). Die Autoren der Norm konkretisieren den Kommunikationsgrundsatz für Anleitungen wie folgt: „Wird eine Betriebsanleitung erarbeitet, sollte der Kommunikationsablauf ‚Lesen – Denken – Anwenden‘ befolgt werden, um den für den Leser größten Nutzen zu erzielen.“ Für weitere allgemeine Grundsätze verweist die Norm 20607 auf die Norm IEC/IEEE 82079-1:2019 Erstellung von Nutzungsinformationen (Gebrauchsanleitungen) für Produkte – Teil 1: Grundsätze und allgemeine Anforderungen. Im Abschnitt 7.3 empfiehlt die Norm 82079 folgende Hinweisdarstellung (Abb. 01).

Zitat aus der Norm IEC/IEEE 82079-1.
Abb. 01 Empfehlung nach IEC/IEEE 82079-1. Quelle Dieter Gust

Entsprechen diese Formulierungen und Hinweise wirklich den Anforderungen von Anleitungsnutzern? Oder sind diese Formulierungen eher als vermeintliche „juristische Absicherung“ formuliert? Eher Letzteres, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass solche Sätze irgendeine juristische Absicherung bewirken.

Im Überflug

Jakob Nielsen beschrieb bereits in den 1990er-Jahren den „Konsum“ von Webseiten mit den Begriffen „Skimming“ und „Scanning“. Auf Deutsch kann man beide Begriffe am besten als „Überfliegendes Lesen“ bezeichnen. Sara Stein veröffentlichte im E-Magazin des ‚tcworld magazine‘ im Juli 2024 einen Grundlagenartikel „How to help people avoid reading“, der etwa Empfehlungen von der Norman Nielsen Group auf die Technische Dokumentation überträgt. [1]

Wie Nutzer handeln

Wenn man eine aus Benutzersicht optimale Technische Dokumentation erstellen will, dann muss man den typischen Nutzungskontext einer Anleitung erst einmal operationalisieren. Das bedeutet, den genauen Ablauf der Kommunikation zu ermitteln. Der Grundsatz „Lesen – Denken – Anwenden“, den aktuellen Dokumentationsnormen enthalten, greift dabei viel zu kurz und meist „daneben“.

In meinen langjährigen Analysen zum Nutzungskontext von Benutzerinformationen bin ich auf das Buch „the Design of every day things“ gestoßen. Der Autor Don Norman, Mitglied der Norman Nielson Group und emeritierter Professor für Kognitionswissenschaften der University of California, stellt darin 7 Phasen des Handelns beim Umgang mit Alltagsprodukten vor (Inf. 01).

Das Modell der 7 Handlungsphasen

Das Modell beschreibt, wie Menschen beim Umgang mit Produkten oder Systemen vorgehen. Es zeigt die mentale Abfolge vom Wunsch bis zur Bewertung des Ergebnisses:

Modell mit sieben Handlungsphasen.

Das Modell der „7 stages of action“ hilft UX-Designern, Usability-Experten und Entwicklerteams dabei, Bedienhürden zu erkennen (zum Beispiel mangelndes Feedback oder unklare Systemzustände) und Produkte so zu gestalten, dass sie sich intuitiv und zielführend bedienen lassen. 
Inf. 01 Quelle Dieter Gust; https://en.wikipedia.org/wiki/The_Design_of_Everyday_Things#Seven_stages_of_action 

Ein neues Kommunikationsmodell

Die 7 Handlungsebenen von Don Norman haben mich dazu angeregt, ein Modell der 7 Kommunikationsprinzipien zu entwickeln, um das Zusammenspiel von Produkt- und Dokumentationsnutzung systematisch zu erfassen. Dabei gehe ich davon aus, dass aktuelle Medien (insbesondere Smartphones) und sich gerade entwickelnde Technologien wie künstliche Intelligenz eine zunehmend zentrale Rolle im Kommunikationsablauf einnehmen werden (Inf. 02).

Die 7 Kommunikationsprinzipien der Technischen Kommunikation

Schaubild über die sieben Kommunikationsprinzipien.
Inf. 02 Quelle Dieter Gust * ggf. Vorschläge aus der Cloud, möglichst unterstützt mit Hilfe von RAG (Retrieval Augmented Generation) und kontrollierter Terminologie mit allen zielgruppentypischen Synonymen.

Wie sehen diese einzelnen Phasen des Kommunikationsablaufs aus?

  • 1 Handlungsziel festlegen (Use Case „Cappuccino“: Kaffee einlaufen lassen)
  • 2 User Interface verstehen (Bedienelemente, Systemmeldungen, zum Beispiel rotes Licht: Kaffeetasse wird nicht aufgefüllt)
  • 3 Informationsbedarf erkennen (was bedeutet das rote Licht) und als Fragen mit den geeigneten Schlüsselbegriffen formulieren können
  • 4 Fragen/Wünsche an das Online- Hilfesystem übermitteln: Je nach Problem und Wunsch akustisch, visuell oder schriftlich den Informationsbedarf mitteilen, ggf. kann eine kontext­- sensitive Hilfe das Problem und Lösungsvorschläge direkt ermitteln (Kontextsensitivität und Mobile First sind die erste Wahl)
  • 5 Antworten erhalten, bewerten und filtern: „Rotes Licht: Wasserbehälter leer oder Kaffeesatzbehälter voll“, ggf. Vorgehen zur Problembehebung analysieren
  • 6 Aus den Antworten die Handlung für die Problembehebung ableiten und ausführen
  • 7 Ergebnis bewerten: Woran erkenne ich, dass das Problem behoben wurde? Grünes Licht? Kaffeetasse ist voll mit leckerem Cappuccino? Wunderbar.

Konsequenzen für die Redaktion

Aus den einzelnen Phasen leite ich grundsätzliche Anforderungen für eine optimale Erstellung von Nutzungsinformationen ab.

Für die Prinzipien 1–3 muss die Technische Redaktion möglichst alle Anwendungsfälle reflektieren, die ein Nutzer in Verbindung mit dem Produkt haben wird, und die entsprechenden benutzerbezogenen Begriffe auf die Begriffe des UI und der Produktfunktionen abbilden.

Da ein Benutzer erst in die Anleitung schaut, wenn er eine konkrete Fragestellung hat, macht die klassische Gliederung als Buch in Kapitel und Abschnitte wenig Sinn. Das Ziel muss sein, alle Informationen in beliebig viele Topics zu zerlegen. Aus den bekannten FAQ (Frequently Asked Questions) müssen AAQ werden (Any Asked Questions), eine offene Sammlung potenzieller Nutzerfragen. Da diese Aufgabe eine Technische Redaktion allein kaum bewältigen kann, sind KI-Methoden nötig. Diese können aus grundlegenden Informationen beliebig viele Topics ableiten. Zusätzlich gilt es, das Wissen der „Crowd“ (alle Produktanwender) zu berücksichtigen. Denn viele Use Cases und daraus resultierende Probleme werden erst in der laufenden Produktanwendung sichtbar.

Benutzer haben auch ohne Dokumentationsnutzung bestimmte Vorstellungen zu den Aufgaben, zum Produktaufbau und der Logik der Funktionen und schließlich zum Vorgehen am Produkt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Diese Vorstellungen sind durch so genannte mentale Modelle seit Langem wissenschaftlich untersucht (Abb. 02).

Schaubild mit mentalen Modellen in der Schnittmenge das User Interface.
Abb. 02 Beispielhafte Darstellung mentaler Modelle. Quelle Dieter Gust

Mentale Modelle helfen uns, die Welt zu verstehen und zu bewerten. Diese Modelle bilden stets nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit ab nach dem Prinzip „Pars pro toto“ (ein Teil für das Ganze). Doch die Modelle können leider auch in die Irre führen.

Aber nur mit Hilfe von mentalen Modellen können wir neue Detailinformationen überhaupt verstehen und weiterverarbeiten. Eine zielgruppengerechte Terminologie beeinflusst entscheidend das Ansprechen von geeigneten mentalen Modellen in den Köpfen der Leser. Für Nutzungsinformationen zu einem technischen Produkt bilden die in Abbildung 02 dargestellten „Logiken“ drei typische mentale Modelle für ein Verstehen oder Nicht-Verstehen der Produktbedienung.

Es ist die Kunst der Technischen Redaktion, die vorhandenen drei mentalen Modelle im Umfeld einer Produktnutzung zu erkennen, sie zu nutzen oder durch entsprechende Erklärungen zu korrigieren. Eine Technische Redaktion kann erst dann Probleme und deren Lösungen erläutern, wenn sie mentale Modelle berücksichtigt.

Allerdings steht die Technische Redaktion vor einer äußerst anspruchsvollen Aufgabe, wenn bei der Produktgestaltung diese mentalen Modelle der Zielgruppen ignoriert werden. Oder wenn es sogar passiert, dass völlig andere mentale Modelle implementiert werden als diejenigen der Nutzer des Produkts bzw. des User Interface. In seinem Buch greift Don Norman diese mentalen Widersprüche in vielen Beispielen auf.

Werden mentale Modelle berücksichtigt, dann ist eines der vorrangigen Ergebnisse ein Glossar. Es stellt jeweils die Produktterminologie, Use-Case-Terminologie und die Handlungsterminologie zielgruppengerecht gegenüber und setzt diese in Beziehung. Ob man dieses Glossar als solches dem Anwender direkt präsentiert oder nur indirekt in den Topics berücksichtigt, ist eine andere Frage.

Wenn Technik mitkommuniziert

Für die Phasen 4 bis 6 muss sich die Technische Redaktion mit der gesamten Kommunikationssituation beschäftigen. Bei der Informationsplanung müssen neue Aspekte durchdacht werden, zusätzlich zu den klassischen Themen „Inhaltsstrukturierung“, „Text- und Bilderzeugung“. Allerdings werden diese Zusatzaufgaben bisher als reine Ausgabe­konfiguration für das Publizieren der Informationen aus einem Redaktionssystem in ein Content-Delivery-Portal verstanden und daher von der Technischen Redaktion erst einmal ferngehalten. Die folgende Darstellung (Inf. 03) zeigt die zusätzlichen Aspekte, die eine Technische Redaktion neben Struktur und Inhalt bei der Informationsplanung künftig berücksichtigen muss.

Modernes User-Experience-Design

6 Aspekte eines modernen User-Experience-Designs für die Technische Kommunikation

  1. Interaction-Design
  2. Interface-Design
  3. Strukturierung/Informationsdesign
  4. Inhalt: Text, Grafik, Audio, Bewegtbild
  5. Daten, Metadaten
  6. Technologie (Programmierung)
 
  • Interaction-Design betrifft dynamische Aspekte einer Informationsnutzung, etwa Ausklappbereiche oder Abrufen animierter Informationen; die Möglichkeiten sind noch lange nicht ausgereizt
  • Interface-Design: Wer, wenn nicht die Technische Redaktion, muss das UI einer HTML-Hilfe, deren Navigationsfunktionen und Suchhilfen durchdenken und ggf. Anpassungen fordern?
  • Informationen sind zunehmend kontext­bezogen und daher datengetrieben: Zu allen Topics wird ein umfassendes Metadatenkonzept benötigt, um unterschiedlichste Zugriffsmöglichkeiten zu erlauben.
  • Viele moderne UXD-Aspekte müssen durch eine entsprechende Programmierung erst noch erreicht werden. Wer, wenn nicht die Technische Redaktion, kann und muss der Treiber sein für eine laufende Optimierung des User Experience Designs einer elektronischen Dokumentation?
  • Wenn man die Anforderungsermittlung der „IT“ überlässt, dann wird etwa eine Volltextsuche (wenn überhaupt vorhanden) bei Eingabe mehrerer Wörter als Oder-Verknüpfung statt als Und-Verknüpfung implementiert. Dieses Systemverhalten ist aus Nutzersicht unsinnig. Doch leider erlebe ich diese Konfiguration in zahlreichen HTML-Umsetzungen von Anleitungen.

Inf. 03 Quelle Dieter Gust

Die Technische Redaktion muss das User-Experience-Design thematisieren und vorantreiben. Jenseits von PDF eröffnet sich eine Fülle von Möglichkeiten, die auch den redaktionellen Prozess der Informationen beeinflussen. Dazu zählt etwa die eingeklappte Darstellung von bestimmten Informationen, zum Beispiel bei Warnhinweisen.

Wie gut ist die Praxis?

Testen Sie beispielhaft die „Interaktive Online-Anleitung“ eines Einbaubackofens. [1] Die Anleitung besteht leider noch aus einer einfachen Konvertierung einer print-orientierten Dokumentation (Abb. 03).

Drei Screenshots aus einer Anleitung für einen Einbaubackofen.
Abb. 03 Screenshots einer Anleitung zu einem Einbaubackofen. Quelle Dieter Gust; Siemens

Suchen Sie beispielsweise Informationen zur Funktion „Air Fry“. Was ist das? Wie funktioniert Air Fry? Kann ich ein Produkt zunächst auftauen und dann automatisch ein weiteres Programm zum Kochen/Backen dazuschalten? Geben Sie Ihre Fragestellungen zur Abwechslung auch in ChatGTP ein. Sie werden staunen, was die KI weiß, aber die Anleitung bislang nicht abdeckt.

Dass im Zusammenhang der hier dargestellten Kommunikationsprinzipien die wirkliche Revolution der Technischen Kommunikation durch KI-Technologien gerade erst eingeläutet wird, soll verdeutlichen, dass ein neuer Zug des User-Experience-Designs eingefahren ist. Wer auf diesen Zug nicht aufspringt und es beim „Lesen – Denken – Anwenden“ belässt, läuft Gefahr, den Anschluss an moderne Informationsbedürfnisse und Informationsprodukte zu verlieren.

Links zum Artikel

[1] https://www.tcworld.info/e-magazine/technical-writing/how-to-help-people-avoid-reading-1335 
[2] https://www.siemens-home.bsh-group.com/de/manual/9001760962/17866369419-handling?productCode=CM776GKB1 

und weitere quellen

DIN EN ISO 12100:2025-01 – Entwurf Sicherheit von Maschinen – Allgemeine Gestaltungsleitsätze – Risikobeurteilung und Risikominderung.
DIN EN ISO 20607:2025-03 – Entwurf Sicherheit von Maschinen – Betriebsanleitung – Allgemeine Gestaltungsgrundsätze.
DIN EN IEC/IEEE 82079-1:2021-09; VDE 0039-1:2021-09 Erstellung von Nutzungsinformationen (Gebrauchsanleitungen) für Produkte – Teil 1: Grundsätze und allgemeine Anforderungen
Don Norman, The Design of Everyday Things: Revised and Expanded Edition, Vorstellung auf der Website der Norman Nielsen Group.
Video von Don Norman: The Design of Everyday Things: https://www.youtube.com/watch?v=_Kc57XAE_V4 
How Users Read on the Web (1997): https://www.nngroup.com/articles/how-users-read-on-the-web/ 
Wikipedia (en): https://en.wikipedia.org/wiki/The_Design_of_Everyday_Things#Seven_stages_of_action 
Wikipedia (de): Mentales Modell, https://de.wikipedia.org/wiki/Mentales_Modell 

Titelbild von Ausgabe 05 2025 der Fachzeitschrift technische kommunikation.