Die Technische Redaktion steht an einem Scheideweg – ausgelöst durch künstliche Intelligenz (KI). Sie ist nicht mehr bloß ein Hype, sondern spätestens seit Ende 2022 Realität. Sie anzuwenden, liefert einen signifikanten Innovationssprung. Zu diesem Zeitpunkt machte OpenAI mit Chat GPT-3.5 künstliche Intelligenz der Welt zugänglich. Seitdem verändert KI in mehreren Systemen – von Chat GPT über Gemini bis hin zu Claude – rasant die Art und Weise, wie wir Informationen erstellen, verarbeiten und konsumieren. Die Frage ist nicht mehr, ob KI die Technische Kommunikation revolutionieren wird, sondern wie. In diesem Artikel geht der Futurist und Unternehmer Christopher Peterka genau dieser Frage nach dem Wie nach.
Fluch oder Segen?
KI ist ein zweischneidiges Schwert, wie sich anhand der folgenden zwei Zitate erkennen lässt. Eva-Maria Meier, Projektmanagerin bei der plusmeta GmbH sagt über KI: „Die KI kann stupide Tätigkeiten übernehmen. Gerade wenn große Bestandsdatenberge zu verarbeiten sind, kann KI den Arbeitsprozess angenehmer gestalten. Dann muss man als Redakteur nur noch die Vorhersage überprüfen. Die KI wird bei ihren Prognosen auch nicht müde und liefert immer gleichbleibende Qualität. Sie urteilt außerdem objektiv nach den gelernten Kriterien.“
Ulrike Parson, CEO der parson AG findet wiederum: „Technische Dokumentation muss fachlich und sprachlich korrekt sein. Sie muss gesetzlichen Vorschriften und Richtlinien entsprechen, zum Beispiel der Maschinenrichtlinie. Und in vielen Unternehmen ist es wichtig, die Herkunft und Änderungshistorie von Informationen genau nachzuverfolgen. Deshalb können Technische Redakteurinnen und Redakteure nicht einfach ersetzt werden.“
Maschinen sind Menschen in einigen Dingen überlegen, zum Beispiel in Prognosen. Das beweist nicht zuletzt Abbildung 01. Bereits seit dem Jahr 2015 geben Maschinen bessere Prognosen ab als Menschen – Tendenz steigend. Die Fehlerrate liegt unter 5 Prozent und wird sich in den nächsten Jahren weiter der 0 Prozent-Achse nähern, während der Benchmark von Menschen konstant bei 5 Prozent verweilt. Einerseits kann KI Routineaufgaben übernehmen und automatisieren, etwa das Übersetzen von Texten, das Erstellen von Inhaltsverzeichnissen oder das Verarbeiten von Bestandsdaten. Andererseits sorgen sich Menschen darum, durch Maschinen ersetzt zu werden. Eins vorweg: KI ist nicht der Untergang, sondern eine Chance. Auch für die Technische Redaktion, denn KI ermöglicht es Redakteurinnen und Redakteuren, sich auf kreative und strategische Aufgaben zu konzentrieren, wie die Entwicklung von zielgruppengerechten Inhalten oder die Analyse von Nutzerdaten. KI wird diese Personen nicht einfach ersetzen. Aber: Das Berufsfeld Technischer Redakteurinnen und Redakteure bzw. von Fachleuten für Informationsentwicklung wird im Zuge der Automatisierung von Informationsverarbeitung durch immer bessere und günstigere Maschinensysteme verschwinden. Ebenso, wie auch die Berufe „Technischer Zeichner“ oder „Schriftsetzer“ verschwunden sind.
Abb. 01 Im Vergleich zum Menschen erkennt eine KI Trends eindeutiger und lernt dazu. Quelle Christopher Peterka
Sich auf Potenziale einlassen
Die Herausforderungen bei der Adoption von KI in der Technischen Redaktion sind allgegenwärtig – wie in anderen Bereichen auch. Sei es die digitale Dokumentation, Fragen zur Regulierung, Anforderungen bei der Softwareentwicklung und -anwendung sowie die Technische Übersetzung. Doch der Nutzen der Anwendung wird die Herausforderungen spürbar überwiegen. Denn laut einer Umfrage der Plattform Capterra von 2023 zur Einschätzung des Einflusses von KI-Tools auf die Produktivität gaben 41 Prozent der Befragten an, dass sie durch generative KI-Tools eine deutlich höhere Produktivität erwarten. 48 Prozent rechnen mit einer etwas höheren Produktivität. Dabei reichen die Einsatzbereiche von generativer KI in Unternehmen von Texterstellung (47 Prozent), Textbearbeitung (44 Prozent) und Übersetzung (36 Prozent) über Analytik und Berichterstellung (33 Prozent) bis hin zu 3D-Generierung (25 Prozent) und Audioerstellung (20 Prozent).
Die Zukunft der Technischen Redaktion liegt in der Zusammenarbeit von Menschen und Maschinen. Wird die KI-Adoption gemeistert und lassen sich Redakteurinnen und Redakteure auf diese Zusammenarbeit ein und nutzen die Potenziale der KI, werden sie auch in Zukunft eine wichtige Rolle in der Informationsgesellschaft spielen. Die Kernkompetenz der in der tekom organisierten Talente scheint prädestiniert für die nächste Evolutionsstufe der Informationsentwicklung: Weg von der Technischen Dokumentation hin zum strategischen Wettbewerbsvorteil durch Informationsvorsprung – und damit eine gänzlich neue Rolle.
Der Blick ins Universum
Eine der spannendsten Anwendungen von KI in der Technischen Kommunikation ist das so genannte Distant Reading. Dabei werden Millionen von Texten mithilfe von Algorithmen analysiert. Die Methode erkennt Muster, Trends und Zusammenhänge, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben.
Distant Reading ermöglicht es folglich, einen Blick in das „Informationsuniversum“ zu werfen und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Für die Technische Kommunikation bedeutet das beispielsweise, dass Redakteurinnen und Redakteure mit Hilfe von Distant Reading herausfinden können: Welche Themen sind besonders relevant? Welche Begriffe werden häufig miteinander verknüpft? Oder welche Schreibstile sind besonders effektiv? Distant Reading ist somit ein mächtiges Tool für die Technische Redaktion. Es kann dabei unterstützen, Inhalte zu optimieren, Zielgruppen besser zu verstehen und die Kommunikation effektiver zu gestalten. Die Zukunft der Technischen Redaktion liegt in der Zusammenarbeit von Menschen und Maschinen. KI kann zwar dabei unterstützen, schneller, effizienter und präziser zu arbeiten. Aber sie kann Redakteurinnen und Redakteure mit deren Kreativität, Empathie und kritischem Denken nicht ersetzen.
Um Distant Reading zu nutzen, ist KI-Adoption unausweichlich. In einer Ära, in der OpenAIs ChatGPT innerhalb von zwei Monaten 100 Millionen Menschen erreicht hat, war das Motto „Geschwindigkeit schlägt alles“ nie relevanter. OpenAIs schnelle Meisterleistung zeigt nicht nur einen „Day Zero“ in der technologischen Adoption. Sie unterstreicht auch eine deutliche Verschiebung im unternehmerischen Ökosystem. Die Mär hat sich von „The winner takes it all“ zu einem feineren Verständnis gewandelt: Es hat größte Bedeutung, KI verantwortungsbewusst zu testen und so schnell wie möglich ergebnisorientiert im Unternehmen einzusetzen. Dabei sollten ethische und rechtliche Aspekte berücksichtigt werden wie Datenschutz und Transparenz.
Hilft Regulierung weiter?
Klimakrise, Corona-Pandemie, Kriege und geopolitische Spannungen – all dies sind Unsicherheiten. Der Faktor „Unsicherheit“ ist anhand des Economic Policy Uncertainty Index, kurz EPUI, messbar. Dieser Index misst die wirtschaftspolitische Unsicherheit, basierend auf Erwähnungen in Landeszeitungen. Mit Blick auf die Ausfall-Regulierung zeigt Abbildung 02, dass die medial reflektierte Unsicherheit in Deutschland viel stärker angestiegen ist als in Europa. Diese Unsicherheit nimmt durch bürokratische Hürden signifikant zu. Allein im Jahr 2023 hat die EU 1.211 Legislative-Akte verabschiedet. Dies beeinflusst, ja beeinträchtigt den Wettbewerb zulasten der EU.
Viel zu oft malen wir in Europa schwarz, ganz besonders in Deutschland. Statt wie die USA und China den Weg für mehr KI-Adoption zu ebnen, verschanzt sich die EU hinter Regulierung. Im Mai 2024 stimmten die Mitgliedstaaten den EU-Plänen zu, die die Nutzung von KI-Systemen bei der Videoüberwachung, Spracherkennung oder Auswertung von Finanzdaten regeln. [1] Das Gesetz gilt zwar erst ab 2026, doch die EU-Länder dürfen sich nach eigenen Angaben bereits jetzt damit rühmen, das erste Gesetz dieser Art auf den Weg gebracht zu haben – weltweit.
Im Fall von Regulierung muss das Ziel selbstverständlich sein, einerseits die technologische Innovation weiter zu fördern, andererseits Risiken zu minimieren. Dabei geht es unter anderem um Fragen wie Ethik, Sicherheit und Voreingenommenheit beim Trainieren der KI mit Daten. Zu viel Regulierung könnte allerdings wie so oft dazu führen, dass Europa das Nachsehen hat. Zusätzlich sind die Finanzierung und die Rechenkapazität bislang die größten Hürden für KI-Start-ups aus Europa. Das Funding beläuft sich auf insgesamt 2,37 Milliarden Euro. [2] Im Gegenzug ein Blick über den Atlantik: In den USA haben allein OpenAI und Anthropic bis Dezember 2023 bereits mehr als 14 Milliarden Euro an Kapital eingesammelt. Das ist das sechsfache an Geld wie das aller geschätzt 699 generativen KI-Start-ups zusammen. Die USA drohen Europa im KI-Rennen abzuhängen. Dabei sind Jungunternehmen so wichtig für die Wirtschaft.
Ein neuer Wirtschaftsmotor
Durch den Gebrauch von generativer KI werden Unternehmen dazu beitragen, dass das Bruttoinlandsprodukt um 7 Prozent wächst. Der Gewinn vor Zinsen und Steuern (EBIT) wird dank KI um 20 Prozent steigen. Allein der Softwarekonzern Microsoft hat 12,28 Milliarden Euro in Open- AI investiert. Zum Vergleich: Das KI-Paket der Bundesregierung für 2018 bis 2025 sieht Investitionen in Höhe von lediglich fünf Milliarden Euro vor. Ähnlich wie beim Funding schneiden die Europäer auch hier nicht besser ab.
Hinzu kommt, dass davon noch 2,2 Milliarden Euro verfügbar und somit nicht verplant sind. Bis Mai 2023 hatte die Bundesregierung lediglich 1,28 Milliarden Euro ausgegeben. Es stellt sich unweigerlich die Frage, welche Priorität KI-Investments für die Regierung haben.
Dabei könnte es sich mit der Entwicklung von KI ähnlich verhalten wie bei Kühlschränken. Chamath Palihapitiya, CEO von Social Capital, bemühte diese Analogie: „Die Person, die den Kühlschrank erfand, machte damit etwas Geld … Aber das meiste Geld verdiente Coca-Cola, das sich dank des Kühlschranks ein Imperium aufgebaut hat. Wenn KI und LLMs der Kühlschrank sind, wer wird dann das nächste Coca-Cola sein?“ Die Erfindung von KI wird den Weg zu neuen hochbewerteten Unternehmen ebnen, die zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Auch diese Nachricht scheint in Europa noch Echo finden zu müssen.
Die Zeit zu handeln ist heute, um sich neu zu erfinden und zu positionieren. Traditionelle Formen des Diskurses mit Stakeholdern, geduldiges Abwägen mit Regulatoren und vorsichtige Theorie-Initiativen sind nach dem „Day Zero“ untauglich geworden. Josef Schumpeter sagte dazu: „Jede ökonomische Entwicklung (…) baut auf dem Prozess der schöpferischen beziehungsweise kreativen Zerstörung auf. Durch eine Neukombination von Produktionsfaktoren, die sich erfolgreich durchsetzt, werden alte Strukturen verdrängt und schließlich zerstört. Die Zerstörung ist also notwendig – und nicht etwa ein Systemfehler –, damit Neuordnung stattfinden kann.“ Im Falle von KI-Adoption beflügelt diese kreative Zerstörung. Eine Unternehmerin oder ein Unternehmer sollte sich nicht fragen, ob eine ähnlich schnelle Meisterleistung machbar ist, sondern wie. Der Schlüssel dazu liegt nicht darin, sich direkt mit den langsam bewegenden Zahnrädern der europäischen oder gar deutschen Bürokratie zu messen. Vielmehr gilt es, sie durch digitale Innovation zu umgehen und schlanke start-up-ähnliche Methoden zu nutzen. Unternehmen müssen digitale Werkzeuge für jeden Aspekt ihrer Operationen verwenden, damit sie agil bleiben und im richtigen Moment schnell handeln können.
Jenseits menschlicher Kognition
Die Nutzung von KI lässt folgende Schlüsse zu:
- Der praktisch sichtbare Fortschritt von KI in Verbindung mit den Investitionsvolumen legt die Frage nahe: Was wäre eigentlich, wenn KI zum dominanten Produktions- und Entscheidungsfaktor würde?
- Der Wettbewerbsvorteil durch Daten besteht im tiefen Verständnis von kausalen Treibern und Hürden der Informationsentwicklung.
- Prognosen durch Daten erlauben einen validierten Blick auf die Zukunft und neue Handlungsoptionen vor dem Wettbewerb.
- Alternative Daten (zu anderem Zweck gesammelt) erlauben einen neuen Blick auf Trends und die Schaffung von neuem Geheimwissen.
Wir sind inmitten eines Paradigmenwechsels. Statt sich allein auf das menschliche Gehirn, die Google-Suche oder auch das Bauchgefühl zu verlassen, befördert die KI uns jenseits der menschlichen Kognition. Maschinelles Lernen, NLP, fortlaufende Experimente und Wahrscheinlichkeitsmodelle sind ergänzende Mittel. Die Zukunft der Informationsentwicklung in der Technischen Redaktion dürfte im Ergänzen von Informationen liegen – unter massiver Ausnutzung von KI und Datenpotenzialen – zur Einleitung einer neuen Ära menschlicher Entscheidungsfindung.
Bei diesem grundlegenden Wandel halte ich es mit Professor Dr. Tim Bruysten: „… unser Wandel ist nicht linear und schon gar nicht (mehr) kontrollierbar. Ob er gut ist oder nicht, das liegt daran, wie ernst wir ihn nehmen. Ob es uns gelingt, seine Komplexität anzuerkennen, und wir sie nicht mit faulem Zauber in einfache, leicht zu verdauende Bulletpoints zerschneiden.“
Links zum Artikel
[1] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ki-gesetz-eu-102.html
[2] https://startup-mitteldeutschland.de/guides/ki-startups-in-europa/#:~:text=Die%20meisten%20dieser%20generativen%20KI,die%20Regulierung%20und%20die%20Rechenkapazit%C3%A4t.
Literatur zum Weiterlesen
Joshua Gans: Prediction Machines.
Miriam Meckel, Léa Steinacker: Alles überall auf einmal
Christopher Peterka: Deine Wahl.