Systemauwahl mit Köpfchen

Text: Christian Schwendy

International tätige Unternehmen stellen ihre Technische Dokumentation in zahlreichen Sprachen bereit. Das Übersetzen wird dabei schnell zum Standardprozess, der ein Translation- Memory-System erfordern kann. Nach welchen Aspekten sollte es ausgewählt werden?

Inhaltsübersicht

Lesedauer: 08:14 Minuten

In unserer globalisierten Welt stehen Unternehmen täglich vor der Aufgabe, die von ihnen erstellten bzw. genutzten Inhalte und Dokumente zu übersetzen. Und das meist in mehrere Zielsprachen. Das Gute: Bereits übersetzte Inhalte lassen sich relativ einfach wiederverwenden, wenn man dies von Anfang an plant. Kommen Content-Management-Systeme (CMS) – speziell Redaktionssysteme – zum Einsatz, kann die Wiederverwendung unveränderter Inhalte im besten Fall direkt in diesen Systemen erfolgen. Das Modularisieren von Inhalten, üblicherweise auf Kapitel- oder Absatzebene, ermöglicht die automatische Wiederverwendung von Übersetzungen. Zum Beispiel bei der Aktualisierung eines vorhandenen Dokuments: Die neue Version muss nicht komplett neu übersetzt werden, sondern nur die neuen und geänderten Inhalte.

Für die professionelle Übersetzung neuer oder geänderter Inhalte wird zudem ein leistungsfähiger Editor benötigt, der die Bearbeitung, Speicherung und effiziente Wiederverwendung von Übersetzungen erlaubt. Letztere geschieht in Form deutlich kleinerer Inhaltsmodule als in einem CMS, das heißt auf Satz- oder sogar Wortebene. Außerdem sollten unterstützend Terminologie bereitgestellt und Qualitätsprüfungen durchgeführt werden sowie nach Bedarf die Einbindung maschineller Übersetzungstools unterstützt werden, das heißt mit künstlicher Intelligenz.

Das alles wird zentral gesteuert, so dass sich Übersetzungen systematisch und parallel in zahlreichen Zielsprachen erstellen lassen. All diese Funktionalitäten vereinen sich in einem Translation-Memory-System (TMS). Eine entsprechende Softwarelösung sollte daher in keinem professionellen Übersetzungsprozess fehlen.

So funktioniert das System

Ein Translation-Memory-System bietet praxisnahe Funktionalitäten für die Erstellung professioneller Übersetzungen. Die Hauptkomponenten sind der Übersetzungseditor und eine Übersetzungsdatenbank. Im Editor wird die Übersetzung erstellt, die in der Übersetzungsdatenbank (Translation Memory) zur späteren Wiederverwendung in Form von „Segmenten“ gespeichert wird – paarweise Satz für Satz in der Ausgangs- und Zielsprache.

Moderne Translation-Memory-Systeme unterstützen die Arbeit im Übersetzungseditor mit Zusatzfunktionalitäten wie dem Zugriff auf Terminologiedatenbanken und Funktionen für (teil-)automatisierte Qualitätsprüfungen sowie der Einbindung von Systemen für maschinelle Übersetzung. Letztere sind heute zumeist Systeme für neuronale maschinelle Übersetzung (NMT) oder für Übersetzungen auf Basis eines Large-Language-Models (LLM). Die hier beschriebenen Translation-Memory-Systeme sind nicht mit Translation-Management-Systemen zu verwechseln. Letztere helfen dabei, Übersetzungs-Workflows zu organisieren. Außerdem stellen sie Funktionalitäten für alle unterstützenden Geschäftsprozesse bereit. Einige der aktuellen Translation-Memory-Systeme verfügen zudem über Funktionalitäten des Translation Managements.

Einen vereinfachten Überblick über das Zusammenwirken der verschiedenen Systeme im mehrsprachigen Content Lifecycle zeigt Abbildung 01.

Doch gehen wir einen Schritt zurück. Denn die entscheidende Frage lautet zunächst: „Brauchen wir überhaupt ein eigenes TMS?“

Vernetzung zwischen den unterschiedlichen Systemen.
Abb. 01 Schematischer Überblick einer Content-Systeminfrastruktur mit TMS. Quelle Christian Schwendy

Benötigen Sie ein eigenes System?

Es gibt viele gute Gründe, die für ein System sprechen. Doch der Bedarf an Übersetzungen in verschiedenen Zielsprachen allein begründet nicht automatisch den Betrieb eines eigenen Translation-Memory-Systems. Dieser Aufwand lohnt sich nicht für jedes Unternehmen, das seine Technische Dokumentation in verschiedenen Zielsprachen bereitstellen möchte.

Die Alternative: Je nach Zielsetzung und Rahmenbedingungen kann es sinnvoll sein, TMS-Technologie oder einzelne Komponenten davon zusammen mit den Übersetzungsleistungen bei einem externen Dienstleister einzukaufen. Sollte das Thema TMS im Unternehmen aufkommen, lohnt es sich also, zunächst eine genaue Analyse des Status quo, der Rahmenbedingungen sowie der Zielsetzung der Einführung eines solchen Systems durchzuführen.

Ob ein eigenes TMS sinnvoll ist, hängt etwa von diesen Faktoren ab:

  • Umfang und Frequenz – welche Textvolumina müssen regelmäßig (pro Jahr) in wie viele Zielsprachen übersetzt werden?
  • Lieferkette – wie sieht die bestehende bzw. zukünftige Struktur an Übersetzerinnen bzw. Übersetzern aus? Arbeiten sie intern, extern oder kommt ein Sprachdienstleister zum Einsatz?
  • Budget – sind finanzielle Mittel für die benötigten Investitionen und laufenden Kosten verfügbar, um ein Translation-Memory-System anzuschaffen, einzuführen und selbst zu betreiben?
  • Fachwissen – neben den Kosten für Hardware-Infrastruktur und Software (-lizenzen) müssen auch Personal­kosten für den laufenden Betrieb kalkuliert werden. Kann das erforderliche personelle Know-how aufgebaut werden?
  • Automatisierung – welche Automatisierungen sind technisch realisierbar und wirtschaftlich sinnvoll?

Sobald eine Technische Redaktion ihre Anforderungen evaluiert hat, ergibt sich ein klareres Bild, ob die Anschaffung eines eigenen TMS sinnvoll ist oder ob eine externe Lösung die richtige ist. Tabelle 01 fasst die Vor- und Nachteile einer eigenen Lösung zusammen.

Hat sich eine Technische Redaktion für die Anschaffung eines eigenen Systems entschieden und startet ein Projekt für dessen Auswahl, dann sollte sie Geduld mitbringen und auf Genauigkeit setzen. Beides wird sich lohnen, denn die maßgeblichen Unterschiede zwischen den Systemen stecken im Detail.

Tabelle zu den Vorteilen und Nachteilen eines eigenen Übersetzungssystems.
Tab. 01 Quelle Christian Schwendy

Die Herausforderung einer Auswahl

Es gibt nicht das eine TMS, das für alle perfekt ist. So ein System kann es meiner Einschätzung nach auch nicht geben. Zu unterschiedlich sind die Anforderungen der beteiligten Stakeholder, zu individuell die Rahmenbedingungen und die strategischen Ziele in den Unternehmen.

Was es sehr wohl geben kann: ein bestmögliches TMS. Eines, das einer Technischen Redaktion den größtmöglichen Nutzen bei geringstmöglichen Einschränkungen und Risiken bietet. Um das bei der Entscheidungsfindung einschätzen zu können, ist ein strukturierter Auswahlprozess nötig. Dass dieser Prozess häufig nicht optimal geplant und durchgeführt werden kann, erlebe ich in der Praxis immer wieder. Oft fehlen Best-Practice-Erfahrungswerte, an denen sich ein Unternehmen orientieren kann. Nach meiner Erfahrung gliedert sich ein Projekt zur Auswahl eines TMS in fünf Phasen (Abb. 02).

Ansteigende Übersicht über fünf Planungsphasen.
Abb. 02 In fünf Phasen zum TMS. Quelle Christian Schwendy

In der ersten Phase des Auswahlprozesses geht es um die Zusammenstellung eines geeigneten Teams und anschließend um die Durchführung einer gründlichen Analyse (Phase zwei). Darin werden Status quo, Anforderungen und Zielsetzung definiert.

Es folgt in Phase drei die detaillierte Spezifizierung aller Anforderungen an das einzuführende System in Form von Requirement-Listen und/oder konkreten Use Cases. Je nach Umfang und Art der Anforderungen kann eine Shortlist aus den am Markt verfügbaren Systemen erstellt werden, um die Aufwände für die anschließende detaillierte Bewertung zu reduzieren (Phase vier). Schließlich erfolgt in Phase fünf eine möglichst objektive und messbare Bewertung der vorhandenen Optionen sowie die Auswertung und abschließende Entscheidung für das neue TMS.

Planung ist alles

Die Translation-Memory-Systeme unserer Auftraggeber sind oft nicht oder nur teilweise in der Lage, das abzubilden, was tatsächlich benötigt wird. Dadurch wird die gewünschte Effektivität bei Qualität, Effizienz und Kosteneinsparungen für Übersetzungen nur begrenzt erreicht. Ursachen für einen Auswahlprozess mit einem suboptimalen Ergebnis sind:

  1. Relevante Anforderungskategorien und Stakeholder werden nicht berücksichtigt.
  2. Es erfolgt keine ausreichend tiefe Spezifizierung des Anforderungs­katalogs und keine adäquate Gewichtung der Anforderungen.
  3. Die Bewertung erfolgt nicht konsequent faktenbasiert und/oder die definierten Entscheidungskriterien bilden nicht den tatsächlichen Bedarf ab.

Lösungsansatz mit P

Es geht also darum, in allen Phasen der Systemauswahl Fehler zu vermeiden. Bewährt haben sich hierbei drei Orientierungshilfen: Personen, Prioritäten und Präzision – und das von Anfang an (Abb. 03).

Personen – Personen und Stakeholder aus allen relevanten Anforderungskategorien einbinden; wer sich beim Betrachten der Situation auf funktionale Aspekte beschränkt, kann nur bewerten, ob ein TMS in Bezug auf diese Aspekte geeignet ist. Das Problem dabei ist, dass alle übergeordneten Chancen (und Risiken), die ein TMS dem Unternehmen darüber hinaus bieten kann, aus der Betrachtung ausgeklammert werden. Daher sollten alle relevanten Stakeholder, die die verschiedenen Anforderungskategorien „vertreten“, am Entscheidungsprozess beteiligt werden. So lässt sich verhindern, dass der Auswahlprozess zu einem unvollständigen Ergebnis kommt.

Empfehlungen: Anforderungen aus allen maßgeblichen Kategorien berücksichtigen; eine Technische Redaktion sollte alle Anforderungskriterien ermitteln und berücksichtigen, die im Unternehmenskontext einen Einfluss auf die optimale Wirksamkeit des auszuwählenden TMS haben. Dabei können neben rein funktionalen Aspekten für die konkreten Workflows der Übersetzungsprojekte auch Anforderungen aus den Bereichen Systemarchitektur, Lieferkette (Verbreitung und Akzeptanz), Datenschutz, Lizenzmodelle, Support-Angebote sowie die generelle Beurteilung des TMS-Anbieters bedeutend sein.

Prioritäten: Anforderungen ausreichend tief spezifizieren und adäquat gewichten; der Anforderungskatalog sollte hinterfragt und spezifiziert werden. Geschieht das nicht, fällt der Vergleich der verschiedenen infrage kommenden Systeme nur oberflächlich aus. Idealerweise sind alle wesentlichen Use Cases in den Übersetzungs-Workflows vorher bekannt. Damit sind alle Anwendungsfälle gemeint, die vom TMS unterstützt werden müssen, um geschäftsstrategischen Ziele im Bereich Mehrsprachigkeit zu erreichen. Sonst können diese später nicht ausreichend umgesetzt werden oder sie verfehlen ihre Wirkung. Im schlimmsten Falle werden sie gar nicht vom TMS berücksichtigt.

Empfehlungen: Investieren Sie Zeit und beschreiben Sie Use Cases und Anforderungen ausreichend detailliert. Suchen Sie intern oder extern nach Fachleuten, um einen vollständigen Anforderungskatalog zu erstellen. Definieren Sie alle aktuellen sowie zukünftigen Use Cases als Grundlage, um die Anforderungen auszuformulieren. Binden Sie Stakeholder bereits beim Festlegen der Use Cases und beim Erstellen des Anforderungskatalogs ein und nicht erst bei der späteren Bewertung.

Setzen Sie Prioritäten – gewichten Sie die Anforderungen entsprechend der Bedeutung der zugrundliegenden Use Cases und Ihrer strategischen Ziele. Eine bewusste, definierte Gewichtung einzelner Anforderungen ermöglicht eine deutlich zielorientiertere Auswertung. Sie erkennen schneller und besser, welches TMS am Markt Ihren Vorstellungen am nächsten kommt. Präzisieren Sie Ihre Scores und erzielen Sie einen höheren Grad an Objektivität bei der Auswahl möglicher Produkte und der finalen Entscheidung.

Präzision: Konsequente, faktengenaue Auswertung und Entscheidung; selbst wenn bei Ihnen im Unternehmen eine Arbeitsgruppe gebildet und ein detaillierter Anforderungskatalog erstellt wird: Die Bewertung sollte durch Prozessbeteiligte geschehen, die ausreichend qualifiziert sind und die Tiefe der Entscheidung durchdringen. Häufig erfolgt der weitere Verlauf des Auswahlprozesses durch Self-Assessment der Tool-Hersteller – und damit auch die Bewertung. Ohne unternehmensinterne Einschätzungen fehlt eine objektivierbare Grundlage. Im Zweifelsfall wird nach Gefühl entschieden, vielleicht basierend auf dem subjektiven Eindruck, den das Sales-Team des Herstellers hinterlassen hat.

Empfehlung: Fakten und Zahlen statt Bauchgefühl – arbeiten Sie bei der Bewertung mit klar definierten Scores und Benchmark-Werten. Wenn nicht alle erforderlichen Aspekte im internen Team kompetent vertreten sind, holen Sie sich für das Auswahlprojekt zusätzliche Unterstützung ins Boot. Ideal sind interne oder externe Partner mit Projekterfahrung.

PPP Personen, Prioritäten, Präzision als Faktoren für die Systemauswahl.
Abb. 03 Orientierungshilfe bei der Systemauswahl. Quelle Christian Schwendy

Und was ist mit KI?

Künstliche Intelligenz ist heute in fast allen Systemen, die in Übersetzungsprozessen eingesetzt werden, in irgendeiner Form integriert, überwiegend mit Large-Language-Models (LLMs, zum Beispiel GPT). Dabei reichen die Einsatzgebiete der KI von der Unterstützung einzelner Funktionsmodule bis hin zur Bereitstellung leistungsfähiger Systeme für maschinelle Übersetzung. Für ein Translation-Memory-System verspricht KI zwar viele innovative Möglichkeiten. Trotzdem ist sie nur ein weiterer technologischer Aspekt und sollte mit entsprechenden Funktionsanforderungen Teil der Liste an Auswahlkriterien sein.

Richtig planen und einsparen

Die Wahl eines Translation-Memory-Systems hat nicht nur mittel- und langfristige Auswirkungen auf den Übersetzungsprozess. Im besten Fall profitiert ein Unternehmen unmittelbar von finanziellen Effekten, die weit über die Investitions oder Miet- und Wartungskosten der Software hinausgehen. Wenn eine Technische Redaktion ein eigenes TMS benötigt und anschaffen möchte, so steht und fällt die Entscheidung mit den in diesem Text genannten Aspekten für die Planung.

Gewiss: Ein sorgfältig durchgeführter Auswahlprozess bedeutet Aufwand und erfordert das Durchhaltevermögen aller Beteiligten. Denn es gibt keine Abkürzung bei der Entscheidung für das richtige TMS. Aber es lohnt sich. Die Sorgfalt wird sich mehrfach über die gesamte Nutzungsdauer hinweg auszahlen.

Ein Mann tippt sich mit dem Finger an die Stirn.